In seiner Serie schaut Andreas Wilink auf Klassiker und Raritäten des Kinos. Diesmal: »Hannah und ihre Schwestern« von Woody Allen.
In einem seiner frühen Klassiker, in »Manhattan«, resümiert die Figur des Stadtneurotikers, hier heißt er Isaac Davis, was für ihn der Sinn des Lebens sei, mithin Glück ausmache. Er beantwortet es so: Marlon Brando, Groucho Marx, Louis Armstrongs Aufnahme vom Potato Head Blues, die Äpfel und Birnen von Cézanne. Wir könnten hinzufügen, Glück bedeute es auch, einen Film von Woody Allen zu schauen, einen seiner vielen besten. Am liebsten mit ihm selbst als dem spillerigen Kerl, dem jüdischen Schlemihl und Ostküsten-Intellektuellen, hypochondrisch, hibbelig, unentwegt redend und in Sachen Liebe und Sex mehr scheiternd als Gelingen erhaschend, und mehr im Kino zuhause als in seiner eigenen Wohnung.
Allens filmisches Werk – sind es eher 50 oder schon 60 Filme seit 1972? – kennt die überdrehte, wortwitzige Situationskomödie (»Schmalspur-Ganoven«), die New-York-Geschichten (»Annie Hall«, »Manhattan«), die nostalgische Reminiszenz an das alte Kino (»The Purple Rose of Cairo«) und die »Radio Days«, das Drama existentialistischer Krise in der Nachfolge seines bewunderten Vorbilds Ingmar Bergman (»Interieurs«, »September«, »Another Woman«), die kafkaeske Ich- und Identitätssuche (»Stardust Memories«, »Schatten und Nebel«, »Zelig«), die romantische Love Story (»Midnight at Paris«) und das Konstrukt moralischer Fragen und Schuldkomplexe (»Verbrechen und andere Kleinigkeiten«, »Match Point«). Darunter ist eine Handvoll jener Filme, die all diese Elemente auf genial einfache und doch vielschichtige Tschechow’sche Weise zu verbinden verstehen.
»Hannah und ihre Schwestern« von 1986 (Originaltitel: »Hannah and Her Sisters«) ist in diesem umfassenden Sinn sein Meisterwerk. Ein filmischer Familienroman und ein Gesellschaftsporträt in 16 Kapiteln aus dem künstlerisch-jüdischen New York, das mit einem Thanksgiving-Fest beginnt und mit einem weiteren endet. Dabei gehüllt in warm-weiches Licht und in die Herbstfarben des Central Parks, begleitet von den Songs von Rodgers & Hart und besetzt wie nur je zu den Glanzzeiten Hollywoods.
Drei Schwestern, Hannah (Mia Farrow), Holly (Dianne Wiest) und Lee (Barbara Hershey), deren Eltern, ein Schauspielerpaar (Maureen O’Sullivan, Lloyd Nolan), Ehemänner, Ex sowie aktuelle Partner und Geliebte: verbunden und geschieden durch berufliche und private Nöte, Treulosigkeit und Obsessionen, emotionale Konflikte, kreative Ein- und Aufbrüche. Woody Allen selbst spielt Mickey, den Showman, Gagschreiber und TV-Producer, Hannahs früheren Mann, der am Ende mit Holly glücklich und werdender Vater sein wird.
Hannah, erfolgreiche Schauspielerin und zugleich patenter Zusammenhalt der Familie, die darunter leidet, von allen gebraucht und für stark gehalten zu werden, ist verheiratet mit dem Architekten Elliot (Michael Caine), der sich in eine unsinnige Affäre mit seiner Schwägerin Lee stürzt, die wiederum den Maler-Misanthropen Frederick (Max von Sydow) verlässt, um zu sich selbst zu finden.
Der Sinn, den Mickey stellvertretend sucht, liegt nicht in religiöser Erlösung (der Versuch, seine Todesangst zu bannen und sich Hare Krishna oder dem katholischen Kreuz anzuvertrauen, ist zum Verzweifeln komisch), nicht in Theorie und Ideologie, nicht mal in der Hochkultur, sondern als Sehnsucht nach und Erfüllung in einer Welt, wie sie nur das Kino erschafft. »Hannah und ihre Schwestern« ist eine 100-minütige Liebeserklärung: an die Stadt New York, ihre Gebäude, ihr Tempo und ihre Menschen, an die Frauen (wobei Allen ihnen einen, nun, sagen wir, wenig emanzipierten Platz zuweist), an das Theater, die Musik, die Literatur, an das Glück des Unerwarteten und an die Möglichkeit der Heilung von Schmerz.