Einige Szenen könnten direkt in Fritz Langs Thriller »M« hineinkopiert werden oder in die erste Verfilmung von Döblins »Berlin Alexanderplatz« von Piel Jutzi, 1931, oder sie könnten atmosphärisch Hans Falladas »Ein Mann will nach oben« bebildern. »Berlin – Die Sinfonie der Großstadt« von Walter Ruttmann aus dem Jahr 1927 ist der erste deutsche Dokumentarfilm und somit ein Markstein für die künftige Entwicklung des zweiten Strangs der Filmkunst neben dem Spielfilm. Wirklichkeitsabbildung versus Fiktionalisierung, wie es schon in den Uranfängen der Kinematografie war, damals in Paris: hier die realistischen Brüder Lumière, dort der Phantast Georges Méliès. Kameramann der »Sinfonie« war Carl Mayer, der auch »Das Cabinet des Dr. Caligari« verantwortet hatte. Die deutschen Pioniere des Kinos befruchteten sich wechselseitig und trugen die Filmkunst bis nach Hollywood.
Hier beginnt auch das Genre des Berlin-Films, das über Wolfgang Staudte und Billy Wilder zu Rudolf Thome, Wim Wenders und Thomas Brasch bis zu Christian Petzold reicht, um nur einige zu nennen. Der Film beginnt am frühen Morgen und endet in der Nacht. Die Motive verbinden sich, indem immer wieder das Fahren und Rangieren von Zügen einschneidet und Kettenglieder, Adapter, Verbindungsstellen schafft.
Es sind verdichtete 24 Stunden in fünf Akten (man könnte auch von ‚Sätzen’ sprechen), montiert aus Gegensätzen: Land – Stadt, Leere – Befüllung, Bewegung – Stillstand – Pause, Wachen – Ruhen, Arbeit – Vergnügen und vor allem: Arm – Reich. Dies ist nicht zuletzt ein Film der Klassenverhältnisse: vom Luxusrestaurant zur Massenabfertigung und dem Wühlen von Menschen im Müll. Und er stellt das Miteinander und Gegeneinander von Tradition und Fortschritts-Moderne, Pferdedroschke und Automobil, von Treidelkähnen und rotierenden Rädern, von Arbeit und Revolte, heiterer Idylle am Wannsee und sozialer Kälte dar.
Zunächst ist die »Sinfonie« von Ruttmann, der sehr bewusst einen musikalischen Titel gewählt hatte, Ausdruck ihrer Zeit, des Expressionismus. Die Montage orientiert sich an der Collage-Kunst und beeinflusst sie selbst wiederum: wie die Diagonale in die Bildrahmung schrägt, wie Horizontale und Vertikale sich abwechseln (Aufzüge und Vorhänge hinauf- und herunter fahren); wie Schrift und Schlagzeilen auf der Leinwand tanzen und von »Krise – Mord – Börse – Heirat – Geld« berichten, wie Zeitungs-News erscheinen, wie die Beschilderung von Zügen und ihren Zielen die neu gewonnene Schnelligkeit der Epoche ausbuchstabiert. Die Welt wird kleiner, kürzer, lauter, rasanter. Das permanente Inszenieren von Geschwindigkeit und Vervielfältigung: Litfaßsäulen schreien, Zeitungen und ihre Verteilung machen Druck, Rennfahrer, Rennpferde, Tanz, Boxen, Radrennen machen Tempo. Pfeile auf Verkehrsschildern, die nach rechts und nach links weisen, zeigen an, wie unübersichtlich es zugeht in der Welt. Und wie vielgestaltig – bis hinein in die Abstraktion einer Schreibmaschinentastatur, die für die Multiplikation des Wirklichen steht.
Ein Dokumentarfilm, aber ein radikal subjektiver mit einer dramatischen und polemischen Struktur – wenn sich etwa frühmorgens die Tore öffnen wie zu einem antiken Drama, oder wenn kämpfende Hunde gegen die Masse Mensch gesetzt werden, um das Gesetz des Überlebens zu bezeichnen. Wir geraten in den filmischen Strudel, bis zum Suizid einer Frau im Spree-Kanal. Ein böses Geschichtszeichen, wenn wir an die bald gemordete Rosa Luxemburg denken.