Leos Carax’ Filme – es sind nur sechs (neben mehreren Kurzfilmen) in gut 35 Jahren – waren immer hybrid. Schillernd und schroff, hoch aufschäumend in ihrer Gefühls-Gischt, voll von artifiziellen Bilderrätseln, psychologischen Zeichen und Fragezeichen. Wie lange das her ist, dass »Les Amants du Pont-Neuf« ihr soziales und emotionales Drama feierten, so dass der Himmel über Paris leuchtend explodiert und die steinernen Zeugen der Seine-Brücke beinahe Tränen zu vergießen scheinen angesichts der unmöglichen Liebe zwischen der erblindenden Malerin und dem Clochard!
In »Annette« steigert Carax seinen Stil noch, treibt die Kunst der Montage (und des Zitierens visueller Vorbilder) spektakulär bis ins Surreale und erhöht seine komplex narrative Struktur noch, indem er sie im Genre Musical inszeniert, das immer zugleich naiver und abstrakter als eine klassische Erzählung ist. Das »Fragile« des Singens, wie Carax sagt, berühre und öffne einem das Herz. Vor allem und zudem wird eine der drei Hauptfiguren von einer Puppe dargestellt. Anders als bei dem verknautscht-ledrigen »E.T.«, der sogleich im Menschen den Beschützerinstinkt weckt, bleibt unser Blick auf Annette von Befremden begleitet, auch von Unbehagen. Das Kind wächst heran im Irrealis und ist uns nicht ganz geheuer.
»So may we start, it’s time to start« heißt der Song, mit dem das bizarre Musical dekonstruierend seinen Anfang nimmt: Schauplatz ein Musikstudio in Los Angeles, das hier aber kein La-La-Land ist. Team, Schauspieler und Leute wie Du und Ich sammeln sich, darunter Adam Driver, der sich aufs Motorrad schwingt und los düst – hinein in die Filmstory und seine Henry-Figur. »Annette« haben die Brüder Ron und Russell Mael komponiert und ebenfalls das Drehbuch und Libretto mitgeschrieben, die als Duo Sparks seit den siebziger Jahren von luxuriösem Pop und Glam-Rock zur elektronischen Musik ihren sophisticated beleuchteten Weg nahmen, den Carax an seinem Beginn mitverfolgt hat.
The Beauty and the Bastard
Der Stand-up-Comedian Henry McHenry (Adam Driver), der sich in seinem Programm »The Ape of God« nennt und das Publikum in Stadien und Arenen wie ein Dompteur unter seinen Willen zwingt, und die Opernsängerin Ann (Marion Cotillard) verlieben sich ineinander: They »love each other so much«. Ein Märchen wie von The Beauty and the Bastard. Ihre Beziehung krönt ein Baby, das bei der Geburt ein Clownsgesicht hat, aber sie endet nicht mit dem schönen Schluss-Halbsatz: «und wenn sie nicht gestorben sind…« Für Ann, die geliebte Frau und Mutter, gibt es nur Endlichkeit.
Carax ordnet seinen Helden Farben zu: Rot für Ann, Grün für Henry und viel einsickerndes und auslaufendes Gelb zwischen ihnen, das Henrys Zugriff signalisiert und sich auch auf das Kind überträgt. Henry erfährt einen Karriereknick, als gegen ihn der Vorwurf sexueller Nötigung durch sechs junge Frauen öffentlich wird, während Ann Triumphe auf der Bühne feiert. Sie beschließen den Rückzug und eine Reise, bei der Ann, unterwegs auf See, zu Tode kommt. Sie geht über Bord. Ihr letzter Tanz mit Henry vor der Drohkulisse malerisch sich türmender Wellenberge und nächtlichen Sturms erinnert an die wild verzweifelte Emphase der Liebenden von Pont-Neuf, Michèle und Alex.
Henry steht unter Mordverdacht, den er zwar entkräftet, aber nicht ohne dass eine Tat folgen wird, die den Zweifel in ihn rechtfertigt. Er tötet einen Rivalen: einen Dirigenten (Simon Helberg), der an der Karriere des Wunderkindes mitwirkt, das keine Worte hat, nur Töne und eine gläsern klare himmlische Stimme. Die kleine Halbwaise Annette vermarktet Henry und macht aus ihr also wirklich eine »Puppe« des Publikums und der Publicity im Entertainment-Dollhouse. Er holt ihr die falschen Sterne vom Himmel.
Es ist nicht wenig, womit Leos Carax die Handlung auflädt, wo hindurch er die Figuren führt, welches Schicksal, welche Schuld, welches Versagen er ihnen auferlegt. Aber man nimmt es »Annette« – gerade durch die Masken der Künstlichkeit – immer ab. Den Formalismus-Vorwurf gegen die Kunst erheben zumeist kurzsichtige ›Realisten‹.
Die Vater-Tochter-Geschichte wird zur Verratsgeschichte über missbrauchtes Vertrauen. Als Henry verhaftet und verurteilt wird, begegnet ihm Annette erstmals in Gestalt einer ›echten‹ Schauspielerin (Devyn McDowell). Die Puppe ist kaputt – wie die Beziehung zwischen den Beiden. Henry erwartet eine Zukunft, in der er nichts mehr zum Lieben haben wird.
»Annette« von Leos Carax, Ron und Russell Mael, Frankreich, USA, D, Belgien, Mexiko 2021, 140 Min., Start: 16. Dezember