Ein Wunderwerk der Natur, das man, wie in »Gloria Mundi«, mit sakraler Musik aus Verdis Requiem empfangen darf: eine Geburt. Das Neugeborene erblickt das Licht der Welt, und die Kamera im Film von Robert Guédiguian hält es sanft umfangen und fährt über die Haut des kleinen Wesens wie über die Oberfläche einer Preziose. Das erste Kind von Mathilda und Nicolas bekommt den Namen Gloria. Aber ob dieser Name und ob dieser Beginn, ein Hoffnungszeichen, sich einlösen werden? – es muss offen bleiben.
Wir sind in Marseille. Nicolas (Robinson Stévenin) arbeitet für den privaten Fahrdienst Uber, Mathilda (Anais Demoustier) als Verkäuferin. Der Vater von Mathilda, der wegen Totschlags 20 Jahre lange in Rennes im Gefängnis saß, wird entlassen. Daniel (Gérard Meylan), der sich ein Zimmer sucht, das seiner Zelle gleicht, und seine frühere Frau Sylvie (Ariane Ascaride, die auf den Filmfestspielen in Venedig 2019 als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde) sind längst getrennt. Vielleicht waren sie damals zu jung füreinander und für das Leben.
Sylvie, die in einem Reinigungsunternehmen eine Stelle als Putzfrau hat, ist mit Richard (Jean Pierre Darroussin), einem Busfahrer, liiert, der selbst eine erwachsene Tochter hat, Aurore (Lola Naymark) samt Schwiegersohn Bruno (Grégoire Leprince-Ringuet), der sich gerade einen eigenen Reparaturladen aufbaut. Sylvie bittet ihren Ex-Mann: »Bleib nicht eingesperrt« und holt ihn aus der Isolation. Daniel dichtet für sich Haikus, um Momente des Schönen und der Trauer zu fixieren. Auf dem Amt erfährt er, dass er monatlich 580 Euro erhält. Zu wenig, um zu leben. Er blickt auf die Trümmer eines Lebens, das anders, besser, weniger armselig verlaufen sollte und nun doch genau das ist, vielleicht schlimmer. Aber gerade diese Einsicht gibt ihm innere Ruhe, Gleichmut und die Fähigkeit, eine Schuld auf sich zu nehmen, die seine nicht ist, um einer höheren Gerechtigkeit willen. Ein Opfergang.
Das soziale Gewissen
Alle brauchen einander und bilden als Familie ein kompliziertes Muster von aus der Vergangenheit und in der Gegenwart belasteten Beziehungen: Resignation, Frustration, Tapferkeit, Geheimnisse, Aufsteiger-Illusionen, die Bruno und Aurore an den Neokapitalismus mit seinen Raubtier-Instinkten binden und ihr Verhalten individuell wie auch als Paar beeinflussen, Erwartungen und Enttäuschungen. Sorgen, Zahlungsnöte und Verzweiflungstaten höhlen die Gefühle aus und schaffen Instabilität. An anderer Stelle werden sie künstlich aufgeputscht.
Melancholie, die von den Älteren, den Abgekämpften ausgeht, liegt über der Geschichte und trübt die Stimmung ein. Aber es ist keine Sentimentalität, sondern der den alltäglichen Härten und Bitternissen verpflichtete Ausdruck eines Realismus der Tatsachen und der Tränen.
Guédiguian ist für Frankreich das, was der Brite Ken Loach in seinem Heimatland ist: das soziale Gewissen. Der eine ebenso wie der andere hat einen aufmerksamen, scharf gestellten, empathischen Blick für die Arbeiterklasse und die abgleitende gesellschaftliche Mitte, die oft eine Randerscheinung ist, nicht nur im Kino, auch im Leben selbst. Es ist das Milieu, das der Soziologe Didier Eribon in seiner »Rückkehr nach Reims« beschreibt, ohne dass die Protagonisten hier die fatale Konsequenz ziehen würden, ins rechte Lager zu wechseln.
»Gloria Mundi«, Regie: Robert Guédiguian, F 2019, 107 Min.; Start: 13. Januar