Erdbewegungen. Die Kamera gleitet hinweg über gewaltige schrundige Bodenformationen wie Elefantenhaut und landet schließlich in einer tosenden Maschinenfabrik, die Panzer herstellt. Dann Bilder eines beschaulichen Dorfes am Fluss, dessen Ruhe nur patrouillierende Soldaten und ferne Schüsse stören. Ein dunstig verhangener Neujahrstag in der Ukraine mitten im Donbas-Konflikt in der Grenzregion zu Russland. Was uns noch vor wenigen Wochen wenig vertraut war, so dass wir womöglich auf der Landkarte nach Orientierung suchen mussten, ist uns heute durch tägliche Nachrichten und Kriegsberichte bekannt.
Ein Kaleidoskop des Krieges – bevor er am 24. Februar mit aller Gewalt ausbrach – und seiner Landläufigkeit: Menschen, die auf Busse warten, in Massen unterwegs sind, Hilfe brauchen, Pässe beantragen, nach Vermissten fragen, die tanzen, während Bomben fallen; marschierende Soldaten in Reih und Glied, die für die »Ehre« kämpfen; Wachtposten, Kontrollstationen, Bauarbeiter, die Reparaturen vornehmen, andere Einsatzteams, darunter Mitarbeiter des Roten Kreuzes, die Hilfsgüter ausliefern. Winter, Eis und Schnee. Es ist bitterkalt. Wälder stehen verbrannt da wie Mahnmale. Das Rote Kreuz verteilt eine Ladung mit Öfen an zumeist alte Leute.
Zu ihnen gehört der 20-jährige Andriy Suleiman als Freiwilliger. Er stammt aus Syrien, sein Vater ist Kurde, die Mutter Ukrainerin. Verwandte leben noch in Aleppo. Die Familie floh 2012 vor dem Bürgerkrieg in die Heimat der Mutter in der Region Luhansk, Ostukraine, wo 2014 ebenfalls der von Moskau geschürte Konflikt entbrannte – wir wissen, wohin er geführt hat. Wenn die Familie jetzt zusammensitzt, isst, feiert und singt, ist der Gedanke an diejenigen, die fehlen, immer anwesend. Die Hoffnung der Syrer ruhte auf Europa. Als sie dort ankamen, ist ihnen die Gewalt gefolgt.
Wir begleiten Andriy in seinem ambulanten Alltag als einem Versuch, sich an das Un- und Außergewöhnliche zu gewöhnen, sich mit seinem Befremden vertraut zu machen, den Spalt in seinem Leben zu schließen, aus dem ›weder noch‹ etwas Positives zu gestalten. Den »Schrei der Seele« in Sprache zu verwandeln – und für sich zu vereinbaren, dass Schönheit der Natur und das Grausame unserer Zivilisation nebeneinander existieren.
Andriy ist der Held seiner Geschichte, aber mehr als das, seine Geschichte steht stellvertretend für viele. Jede ist anders, alle gleichen sich im Innersten. Heute noch mehr als vor zwei Jahren, als dieser Film gedreht wurde.
Abrupter Szenenwechsel für ein unbeschwertes Intermezzo. Hamburg im Sommer. Techno-Party an der Binnenalster, deutscher Friede und eine traditionelle Hochzeit unter syrischen Immigranten – Verwandte von Andriy. Das Leben könnte ein langer ruhiger Fluss sein. Aber zurück in der Ukraine – oder auch bei Andriys Besuch in Kurdistan bei seinem Onkel, der als Arzt verwundete und verstümmelte Soldaten behandelt, und den Seinen – ist er ein entfesselter Strom, der alles mit sich reißt. Immer wieder strukturiert Alina Gorlova ihren Filmessay mit Bildern von wilden Gewässern, fallendem Regen oder dem Reinigen der Leiche von Andirys Vater Lazgin mit Wasser vor seiner Überführung nach Syrien und der Bestattung in Heimaterde.
Im Grunde ist es seltsam: Es erscheint einem ganz logisch und realistisch, dass dokumentarisches Filmmaterial sozusagen von Natur aus Schwarzweiß zu sein hat, als wäre das Leben, das es abbildet, nicht vielfarbig, und als sollte nicht – umgekehrt – viel mehr der fiktive, der künstliche, der Kunst-Film ohne Farbe auskommen können. Wie so oft erhöht das Schwarzweiß die Intensität auch von »This Rain Will Never Stopp« – dessen Titel meint auch nicht enden wollende Tränen um die gefährdete und verlorene Heimat, um zwei Heimaten.
»This Rain Will Never Stop«, Regie: Alina Gorlova, Deutschland, Lettland, Qatar, Ukraine 2020, 104 Min., Start: 24. März