P4 bezeichnet im Jargon des französischen Militärs jemanden, der nicht angepasst, psychisch nicht einsatzfähig ist. Die Begriffserklärung steht am Anfang von »Die Magnetischen« und soll vorbereiten auf die Generation um die Zwanzig, die der Film von Vincent Maël Cardona vorstellt. Rebellisch, poetisch schwermütig, energetisch, rauschhaft, wollen sie »an den Pforten der Hölle« rütteln und den Himmel stürmen. Sie sind erwartungsvoll und hoffnungslos. Das Dilemma der Jugend sei, sagt Philippe Bichon, so habe er irgendwo gelesen: nicht zu wissen, was sie wolle, aber dies partout zu wollen.
Im Fernsehen wird das Ergebnis der Präsidentschaftswahl der französischen Republik verkündet: Mai 1981. Francois Mitterrand ist gewählt, er hat sich gegen den bürgerlichen Giscard d’Estaing durchgesetzt. Eine Woche später stirbt Bob Marley, worin die Brüder Bichon ein böses Omen sehen. Unterm Dach im Elternhaus haben sie einen Piratensender mit einem Haufen technischem Equipment installiert, nehmen auf, sampeln und mixen, moderieren, legen auf, senden.
Der stille, zart besaitete, etwas schüchterne Philippe (Thimotée Robart) – ein bisschen wie »Der kleine Prinz« – und sein älterer Bruder, der aufgedrehte, nicht ruhig zu stellende und heillose Jerôme (Joseph Olivennes), leben in der Provinz, wo die einfachen Leute den Sieg des Sozialisten feiern. Aber ob die Hoffnung sich erfüllt … Die Söhne eines Automechanikers arbeiten in der väterlichen Werkstatt, mehr oder weniger regelmäßig. Philippe muss zur Musterung und wird für tauglich erklärt. Verliebt zu sein – in die Friseurin Marianne (Marie Colomb) –, ist nicht pathologisch und sein Mutismus – das Verstummen – nur von kurzer Dauer. Kein Grund, nicht dem Vaterland zu dienen.
Philippe wird nach Berlin abkommandiert: in die damalige Frontstadt und Rettungsinsel für diverse Schiffbrüchige und Leichtmatrosen des Lebens. Es ist das Westberlin, in dem sich David Bowie neu erfunden hat und wo Subkultur in den und aus den Vorkriegs-, Nachkriegs- und Wiederaufbaukulissen wild wächst – diesseits, aber auch jenseits der Mauer in den Nischen des sozialistischen Ostens. Mit Kopfhörern im Ohr den Alltagsdrill und Küchendienst vergessend und wegtanzend, ist es die Musik, durch die Philippe sich definiert und die sein Gefühl bestimmt, auch als Mitarbeiter beim Radio des britischen Sektors, BFBS, und dessen Moderator Danny (Brain Powell), der in dem jungen Franzosen etwas Besonderes wittert.
»Die Magnetischen« pulsieren im und mit dem Sound der Zeit, darunter Iggy Pop, Joy Division, Gang of Four, The Undertones, wobei Philippe sich ebenso träumerisch nostalgisch wie brisant gegenwärtig verortet: zwischen Rilke und Punk, zwischen Les temps de Cerises und krassen E-Gitarrenriffs. Anziehung und Abstoßung fungieren als eine sich wechselseitig bedingende Bewegung: im Verhältnis von Ich und Welt, von Bruder zu Bruder, von Liebendem zu Geliebter. Vom Militär entlassen, das Haar lockig lang gewachsen, kommt Philippe zurück. Jerôme hat sich selbst aus dem Leben geschleudert. Marianne kann seine Heimkehr nicht verstehen. Philippe ist erwachsen. Vielleicht wird er Songs schreiben, vielleicht wird er zum Dichter. Schweigen oder sprechen, aufbrechen, leben und brennen. »Wenn man stehen bleibt, geht man unter.«
»Die Magnetischen«, Regie: Vincent Maël Cardona, Frankreich / Deutschland 2021, 98 Min., Start: 28. Juli