Eine weitgehend geschlossene Gesellschaft, in der politische und religiöse Macht miteinander ein System bilden: einen »Gottesstaat«. Der Vorhang lüftet sich aber, wenn hinter ihm die Leinwand erscheint. Filme aus dem Iran gehören zum Weltkino, sie laufen auf Festivals und werden prämiert, manchmal, ohne dass ihre Regisseure die Möglichkeit hätten, dabei zu sein. Darunter sind Jafar Panahi mit Filmen wie »Der Kreis« und »Taxi Teheran«; Abbas Kiarostami mit Werken wie »Der Geschmack der Kirsche«, »Der Wind wird uns tragen« und »Die Liebesfälscher«; Asghar Farhadi, der 2011 den Goldenen Bären gewann für das sich trennende Ehepaar »Nader und Simin« oder der Bären-Gewinner von 2020: »Es gibt kein Böses« von Mohammed Rasoulof.
Viele der Filme, die iranische Gegenwart spiegeln, abbilden, befragen, leben Spannungen aus, die diese Gesellschaft aushält, aushalten muss und die sie so sehr in zwei extreme Richtungen zieht: zwischen Tradition und Moderne, Mullah-Gebot und Gewaltenteilung, islamischem Recht und demokratischem Freiheitsanspruch, der sich an westlichen Standards orientiert, Ausnahmezustand und Normalität. Unsereins wundert sich (und schämt sich dafür), wenn er Einblick nimmt in das alltägliche Leben, dass und wie die Anwesenheit von Kommunikationsmedien des neuen Jahrtausends neben dem Gesetz der Scharia scheinbar natürlich zu bestehen scheinen. Das sind Widersprüche, die nicht nur die Menschen im Iran zu sortieren haben, sondern auch wir.
Die »Ballade von der weißen Kuh«, von Behtash Sanaeeha und Maryam Moghaddam, die auch Co-Autorin und beeindruckende Hauptdarstellerin ist, verknüpft einige der oben genannten Stränge, fädelt auf und legt ein kompliziertes Muster an. Zu Beginn: ein Koran-Zitat über Moses und das Schlachten eines solchen Milch spendenden Haustiers. Dann sieht man eine Kuh inmitten von Mauern eines Gefängnishofes und zwischen aufgereihten Gefangenen. Diese Kuh ist das Wappentier des Films: ein poetologisches Motiv, Geschöpf aus Minas Träumen, auch Nachkömmling des Goldenen Götzen-Kalbs, um das das Volk Israel zu Füssen des Berges tanzte, auf dem die Zehn Gebote formuliert wurden. Vom Dekalog lässt sich ableiten, dass die Todesstrafe nicht gottgefällig sei, sondern Sünde. Aber die Schrift ließe sich auch anders auslegen. Der Iran tut es und ist ein fleißiger Henker im Rahmen des Justiz-Apparats.
Schuld und Sühne
Wir begleiten eine Ehefrau und Mutter, Mina, die ihren zum Tode verurteilten Mann Barak in der Haftanstalt besucht. Die Hinrichtung erweist sich als Justizirrtum, aber sei »Gottes Wille« gewesen, wie Mina belehrt wird. »Es gibt keine Fehler im heiligen Koran.« Nur menschliches Versagen. Mina in ihrem Verlust-Schmerz aber will nicht nur eine Entschädigung, sondern auch eine Unschuldsanzeige aufgeben.
Mater Dolorosa und Jeanne d’Arc: So lebt sie, die Arbeiterin in einer Milchabfüllanlage, ein schlimmes Jahr lang, bedrängt von Sorgen und ihren Verwandten, die sie zu eigenem Nutzen einzuspannen suchen, ohne Hoffnung und Erwartung. Da steht Reza, der sich als Freund ihres Mannes ausgibt, vor ihrer Tür und gibt vor, Schulden, die er bei Barak gehabt habe, zurückzahlen zu wollen. Er hilft ihr auch, eine neue Wohnung zu finden, als ihr und ihrem Kind Bita gekündigt wird. Ein Mann – fast ein Gottesgeschenk. Aber das ist er nicht, vielmehr mitschuldig an der Verurteilung Barkas, das ein Leben beendet und mehrere beschädigt hat. Auch seines. Sein Gewissen bringt ihn zu Mina.
Schuld und Sühne, Recht und Rache, Vergeltung oder Vergebung – dies die Spannungs-Pole, zwischen denen die Geschichte sich konkret, parabelhaft und auf der symbolischen Ebene bewegt. Weiß ist die Farbe der Unschuld, Milch hat diese Farbe. Behtash Sanaeeha und Maryam Moghaddam sind nicht nur in den Problembezirken ihres Landes beheimatet, sie kennen auch die Filmgeschichte Hollywoods, die hier zu Hitchcock führt, der in »Suspicion« ein Glas Milch wie einen Leuchtkörper anrichtet für ein Hochamt der Liebe. Hier hat es einen anderen Zweck. Mina weiß, was sie tut, und welche Konsequenzen dies für sie und ihr Kind hat.
»Ballade von der weißen Kuh«. Regie: Behtash Sanaeeh & Maryam Moghaddam, Iran / Frankreich 2021, 105 Min., Start: 3. Februar