Ein Schlingensief-Motto als Titel. In Regina Schillings Dokumentation über Igor Levit bezieht sich »no fear« auf Beethovens Musik, auf die 32 Sonaten, die der Pianist sämtlich aufgenommen hat und in dem Filmporträt auch mehrfach interpretiert. »Furchtlose Musik«, nennt sie Levit. Die Kamera begleitet ihn oft und ausgiebig lange bei seinen Soli. Ein Film als Konzentrationsübung und Selbstversenkung.
Wir sehen die Minute, bevor es hinein geht in den Konzertsaal; federnd nervös. Sehen ihn gemeinsam mit dem Tonmeister Andreas, wie sie im Studio an den Aufnahmen feilen, in einer innigen Situation, bei der Levit etwa seine Finger über den Unterarm von Andreas bewegt wie über seine Tastatur.
Der Steinway-Flügel wird die Treppe hochgehievt: Einzug im Mai 2019. Igor Levit twittert gleich eine Nachricht, begleitet vom Spruch, im nächsten Leben doch lieber Querflöte zu spielen. Levit kam 1995 mit acht Jahren nach Deutschland. Für Russland, sagt er, empfände er nicht anders wie ein Tourist, als er nach 17 Jahren erstmals wieder das Land besucht habe.
Der Spiegel lädt ins Hamburger Thalia Theater zum Gespräch über das Grundgesetz zwischen dem gläubigen Christen Wolfgang Schäuble und dem politisch engagierten Juden Igor Levit, der den »Riss« offen legt, der sich in ihm in diesem Land auch gebildet habe. Der besonnene Realist Schäuble antwortet seiner Art nach kühl: Wir lebten nicht im Paradies, nicht in einer heilen Welt, die Erfahrung von Ausgrenzung ließe sich auch Erwachsen-Werden nennen.
Regina Schilling hat unter anderem 2018 den sehr feinen, klugen Film »Kulenkampffs Schuhe« über vier Biografien der Wirtschaftswunderjahre gedreht, die ihres Vaters und drei prominenter Showmaster der Bundesrepublik. Persönliche Geschichte als Zeitgeschichte. Auch hier wächst das Künstlerporträt in unsere Gegenwart hinein.
In 108 Tagen um die Welt: So viele Konzerte sollten es sein in einem Jahr, heute Stockholm, morgen Granada oder Leipzig oder Salzburg – dann die finstere Hochphase der Corona-Epidemie. Es folgen Absagen und der Lockdown – Levit lädt ein zu seinen Live-»Hauskonzerten« (es werden 52), die ein hochherziges Zeugnis der Tat sind, »existentiell« für ihn und für seine »Nerven« die Rettung und die ein Renner in den sozialen Medien und im Netz werden. Der Film zeigt sie im Schnelldurchlauf. Nach der mehrmonatigen Zwangspause, sagt er, fühle er »null Leistungsdruck«. Eine Erleichterung.
Wir sehen ihn – allein und in Schwarz – unterwegs, im Auto, am Flughafen, in Garderoben, bei Proben in leeren Sälen und zur Entspannung flach am Boden liegen, haben Anteil an Verzweiflung und Verdunkelung, wenn er klagt darüber, dass er sich in seinem Anzug beengt fühle wie in einem früheren, alten Leben, damals seien es »Schutzpanzer« gewesen und er habe begonnen, Fitness zu machen und abzunehmen – das wolle er nicht mehr. Tatsächlich, 2005 in Tel Aviv beim Rubinstein-Wettbewerb sitzt ein dicklicher 18-Jähriger am Flügel. Nun wäre zu fragen, ob das Schwarz seiner Kleidung nicht auch eine Form von Rüstung sei: bei jemandem, der seine »bodenlose Verunsicherung« nach Auftritten offen legt, die ihn vergessen ließen, was zuvor an Gelingen gewesen sei.
Am Ende spielt er für Greenpeace und Naturschutzaktivisten im Wald: »The people united will never be defeated«. Hinter dem Zaun marschiert die Polizei. Jetzt trägt Igor Levit eine weiße Mütze. *****
»Igor Levit: no fear«, Regie: Regina Schilling, 118 Min., D 2022, Start: 6. Oktober