Alles hat Bedeutung: eine Traum- oder Erinnerungsszene, in der zwei Buben, einer davon der kleine Sigmund, einem Mädchen einen Strauß gelber Blumen entreißen; oder das gewaltige Maschinenwesen einer Lokomotive, die in einen Bahnhof einfährt. Oder der Traum in der Nacht nach dem Begräbnis des Vaters, in dem er in einem Lokal an einer Tafel die Aufschrift liest: »Es wird gebeten, die Augen zuzudrücken«. Die Augen weit geöffnet hat er uns – das, was wir zu sehen bekommen, ist nicht schön. Es zeigt: Wir sind nicht Herr (oder Frau) im eigenen Haus.
Libido und Trieb, Verdrängung, Sublimierung, Projektion, Identifikation, Zwangshandlung, Ödipuskomplex, Ich, Es und Über-Ich, freies Assoziieren gehen uns von den Lippen bis in den trivialen, banalen und versimpelnden Sprachgebrauch. Die Idee der kindlichen Sexualität und überhaupt Sexualität als das Höchste und Niedrigste in all seinen Interdependenzen hat Freud gewissermaßen stubenrein gemacht.
»Die Traumdeutung«, der Königsweg zum Unbewussten und dem psychischen Apparat, wird als Buch 1900 veröffentlicht und hat das 20. Jahrhundert geprägt. Das Werk hat mit Traditionen und Überzeugungen gebrochen und ist dabei von ebenso literarischer Erzählkunst wie analytischem Geist. Dass Freud den Widerspruchsgeist beflügelt, zeigt sich etwa in den Schriften von Deleuze / Guattari oder Klaus Theweleit.
»Freud über Freud« ist ein diskreter und intimer Film, darin ähnlich der Situation zwischen Arzt und Patient während einer Therapiesitzung; ein stiller, aufklärerischer Film, in dem David Teboul ganz auf die authentischen Äußerungen, Aufzeichnungen und Gedanken von Sigmund Freud setzt wie auch die seiner Tochter Anna, begleitet von dokumentarischem – teils privatem, atmosphärischem und assoziativem Film-, Bild- und Tonmaterial. Gesprochen von den schönen Stimmen von Catherine Deneuve etwa, von Birgit Minichmayr, André Jung und Johannes Silberschneider.
Geboren 1856 im mährischen Freiberg, zieht Sigmund Freud mit seiner Familie nach Wien in die arme Leopoldstadt. Das Kind ist von den biblischen Geschichten und Mythologien fasziniert, aus denen der Bücher- und Schriftmensch später unter anderem den »Familienroman« befördert. Ein Sohn, der als ihr Liebling seine Mutter vergöttert, was das Selbstbewusstsein des Mannes stärkt – wie seine Lehre erkennen will. Der jüdische Junge verwandelt die Demütigung des Vaters durch einen Christen, der ihm den Hut vom Haupt schlägt, in seiner Fantasie in ein Bild der Stärke. Und rächt ihn, indem er zum Helden des Geistes wird. Seine spätere Sympathie für die zionistische Bewegung übrigens schließt Skepsis gegenüber der nationalen Bestrebung ein.
Der begabte Schüler studiert Medizin, hört Vorlesungen bei Charcot in Paris und sieht dessen Experimente zur Hysterie, die für ihn ein Schlüsselerlebnis sind und von denen er sich mit den eigenen Studien, Theorien und Rede-Kuren unter Anleitung des Traums beziehungsweise der erinnerten Traumreste absetzen wird. Auf die mehr als rein wissenschaftliche Freundschaft zum Kollegen Wilhelm Fließ folgt der Bruch. Der erste von weiteren wie zu C. G. Jung, darin einem Muster gehorchend: »plötzliches Entflammen und Groll, gegenseitige Betörung und Verbitterung« (Anna Freud).
Weggefährten sind Otto Rank, Sándor Ferenczy, Ernest Jones, Karl Abraham, etwas später Lou Andra-Salomé und andere. Sie gründen 1908 die Wiener Psychoanalytische Gesellschaft. Die Vereinigung und ihr Sich-Etablieren als System nimmt bleibend etwas an von Geheimbund, Geheimwissen und exklusiv magischem Zirkel.
Freud schreitet seinen Kontinent, die terra incognita der Seele, immer weiter aus. Sein Pessimismus, die Kultur- und Zivilisationskritik (»Totem und Tabu«), die Erkenntnis von Todestrieb, Aggressionsneigung, die sich auf den Nächsten richtet, Traumatisierung, Wiederholungszwang und Umlenkung zu dämonischer Destruktion wurden vom Ersten Weltkrieg befeuert. Hitlers Ermächtigung und mörderisches Unwesen wirkt wie die allerböseste Bestätigung. Bei Österreichs Anschluss notiert Freud »Finis Austriae«. Seit Juni 1938 leben er und die Seinen im Exil in London, wo er im Jahr darauf stirbt. Vier seiner Schwestern wurden im KZ ermordet. Man darf sich Sigmund Freud nicht als einen glücklichen Menschen vorstellen. * * * *
»Sigmund Freud – Freud über Freud«, Regie: David Teboul, Frankreich / Österreich 2020, 97 Min., Start: 5. Mai