Paul Schrader, mit seinen 75 Jahren eines der letzten Momente der New Hollywood-Generation, ist als Filmemacher ein Zeichengeber, um seine Geschichten mit Bedeutung aufzuladen. Für den Drehbuchautor Schrader lässt sich dies vermutlich am stärksten in Martin Scorseses »Taxi Driver« und »Die letzte Versuchung Christi« erkennen; der Regisseur Schrader zeigt dies in seinen mehr als 20 Filmen, darunter dem Klassiker »American Gigolo« mit Richard Gere, dem film noir »Light Sleeper« der brillanten »Mishima«-Biografie oder auch in dem an Patricia Highsmith erinnernden Thriller »Der Trost von Fremden«. Erlösung bleibt sein Leitthema, darin ganz nahe dem Freund, Kollegen und Katholiken Scorsese. »Und vergib uns unsere Schuld« – darum geht es.
»The Card Counter« erzählt von dem Profispieler mit dem ‚Kriegsnamen’ William Tell (Oscar Isaac), der sich damit auf den Schweizer Nationalhelden und Rächer von Tyrannei und Zwang beruft, und seinem moralischen Konflikt. Der ehemalige Soldat im Irakkrieg, der in Abu Ghraib zu schrecklichen Taten genötigt und dafür in den USA zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, aber viel mehr noch mit seiner eigenen Scham bestraft ist, während sein diabolischer Vorgesetzter Major John Gordo (Willem Dafoe) davonkam, kennt das erste Gesetz: »Poker is all about waiting«. Er beherrscht diese Tugend – auch seine Vergeltung an Gordo braucht ihre Zeit.
Derweil zieht Tell – dieser sehr amerikanische Typus – von Ort zu Ort, von einem gesichtslosen Schauplatz zum nächsten. Der Einzelgänger ist unauffällig, nüchtern wach und dezent geschäftsmäßig. Seine Last verliert er nie. In seinen Hotelzimmern überdeckt er das gesamte Mobiliar mit Tüchern, damit der Raum ihn an seine Zelle erinnert, aber womit auch sein Streben nach Reinheit und Leere bezeugt wird. Sein Kopf jedoch ist voll von Schreien und Gewalt, den Erinnerungen und Alpträumen an die Qualen in dem Folterlager von Bagdad, vom Durchdrehen des Einzelnen im operativen System, bei dem das Gewissen verschleudert wurde.
Tell hat das Kartenzählen trainiert und behält den Überblick, welche Karten sich noch in der Hand der Mitspieler befinden. In der Casino-Managerin La Linda mit ihrem Instinkt für einen »Siegerhengst« (Tiffany Haddish) findet er eine Verbündete bei seinen legalen Raubzügen, die irgendwie auch zum Entertainment und US-Showgeschäft gehören. Zudem lernt er den jungen Cirk (Tye Sheridan) kennen, dessen Vater sich umgebracht hat, weil er seine Schuld als Kriegsverbrecher nicht ertrug, und dadurch die Familie innerlich zerstört hat. Auch Cirk will Gerechtigkeit und Gordo zur Rechenschaft ziehen.
Einmal erfasst die Kamera mit einer Großaufnahme die sich suchenden Hände von William und La Linda wie auf Michelangelos Gemälde in der Sixtinischen Kapelle, auf dem Gottes Finger den ersten Menschen Adam erschafft. Auch Paul Schrader erbittet die Neuerweckung seines Helden.
Was gut oder böse, »a good thing or a bad thing« ist, weiß jemand nicht immer genau. Diesen Satz trägt William Tell tätowiert auf seinem Rücken. Doch er weiß es. Unsicher aber ist er, wie das Böse zu zerstören ist, ohne selbst wieder böse zu werden und sich zu zerstören. Er stellt sich seiner Verantwortung im Wissen, dass es Unschuld für ihn nicht geben kann.
»The Card Counter«, Regie: Paul Schrader, USA 2021, 110 Min., Start: 3. März