Nach der neuerlichen Wahl von Benjamin Netanjahu zum Ministerpräsidenten Israels schrieb David Grossman über sein Land am Ende des Traums: »Das Chaos ist da, mit all seiner Sogkraft. Der innere Hass ist da. Die gegenseitige Abscheu ist da, ebenso wie die grausame Gewalt auf unseren Straßen, in unseren Schulen und Krankenhäusern. Auch die Menschen, die Gutes böse und Böses gut nennen, sind schon da.« Gleichnishaft – scheinbar privat – erzählt davon Idan Haguel in »Concerned Citizen«.
Ein Bäumchen zu pflanzen, bedeutet Fortpflanzung, Hoffnung, eine Haltung zum Leben, die über sich selbst hinaus in die Zukunft weist. Ben (Shlomi Bertinov) hat anfangs solches Urvertrauen zu sich, seinem Partner Raz (Ariel Wolf) und seiner Umgebung: ihrer Eigentumswohnung in einem weniger hippen Stadtviertel von Tel Aviv. Dafür steht ihr gemeinsamer Kinderwunsch und das von Ben gepflanzte Bäumchen gegenüber ihres Hauses, mit dem er signalisiert: Hier will ich bleiben, hier gehöre ich hin.
Zwei junge Männer liegen aneinander gekuschelt im Bett, Bellinis Casta Diva-Arie erklingt, Ben begießt die Pflanzen auf der Fensterbank, grüne Smoothie-Drinks werden ebenso genossen wie der Morgenkuss. Schwules Idyll – perfekt und chic, dass seine Brechung nahezu herbeigesehnt wird. Ben und Raz – sanft und freundlich – haben es sich schön eingerichtet. Aber sie wollen das Glück nicht nur für sich allein, sondern sich über eine Leihmutter für ein Kind entscheiden, wie sie einem heterosexuellen Freundespaar erzählen, das skeptisch nachfragt. Ob sie denn glaubten, dass ihr Wohnviertel mit seinen Obdachlosen, Junkies und nichtjüdischen Immigranten dafür die richtige Adresse sei? Ja, doch, es sei »multikulturell, divers und pluralistisch«. Ihre privilegierte Sicht lässt sie so argumentieren, die sich bei der Pride Parade auch in ihrem selbstverständlich mitgeführten Plakat äußert, das die proklamierte »Gleichheit« hochhält.
Wenn Gewohnheiten kollidieren
Als Ben – er ist Architekt – nachts beobachtet, wie zwei Halbwüchsige an seinem Bäumchen lehnen, fürchtet er, der zierliche Stamm könne knicken, und bittet sie höflich, das zu unterlassen; zudem meldet er am Bürgertelefon den Vorfall. Die Polizei rückt an und nimmt einen der Flüchtenden fest, einen Afrikaner. Sie prügeln auf den wehrlos am Boden Liegenden ein, so dass er an den Folgen stirbt. Auch das beobachtet Ben, ohne einzuschreiten.
Danach sehen wir, wie es in Ben arbeitet, aber wohin werden seine Gedanken oder, moralisch gesprochen, wird sein Gewissen sich entwickeln? Der zu Tode Gekommene stammte aus Eritrea, seine trauernde Familie wohnt in der Etage über dem schwulen Paar. Schuld, auch Wut, Hass, auch Scham können viele Gesichter zeigen. Für Ben tragen sie den Ausdruck des Rückzugs und Schweigens: »kein Sex, keine Kommunikation«, wie Raz ihm vorhält.
»Concerned Citizen« (betroffene Bürger klingt doppeldeutig) lässt Erfahrungen, Lebensverhältnisse, Gewohnheiten kollidieren und bohrt ohne Polemik, Lärm und Besserwissen hartnäckig nach der Widerstandsfähigkeit von Werten, die auch für einen Moment Ben von Raz sowie ihn von sich selbst separieren. Der Preis für das eigene Glück ist das Aushalten anderen Unglücks oder dessen Ausblenden. Das Selbstverständnis, progressiv, universal und gewaltfrei zu denken, steht in Frage, der moralische Standpunkt muss neu ausgerichtet werden. Regisseur Idan Haguel gelingt eine Versuchsanordnung unter verschärften Bedingungen: denen der Schuld, Aus- und Abgrenzung. Ein Praxistest sowie dessen therapeutisch inszenierte Wiederholung unter anderen Vorzeichen: anstelle des Wegschauens nun Zivilcourage zur Selbstheilung, Rettung der Beziehung statt Chaos und danach wie zur Belohnung die von Ben und Raz gemeinsam ‚erzeugte’ Spermaprobe für ihr künftiges Baby.
Auf der Computeranimation einer urbanen Piazza gruppiert Ben die Menschenfiguren um, holt jemanden aus der Menge, platziert ihn anderswo und organisiert ein soziales Biotop: künstlich generiertes Abbild einer idealen Gesellschaft. Als Theodor Herzl Ende des 19. Jahrhunderts seine Utopie vom »Judenstaat« entwarf, schrieb er: »Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.« Das war einmal. *****
»Concerned Citizen«, Regie: Idan Haguel, Israel 2022, 82 Minuten, Start: 2. Februar