Ein Naturidyll wie bei Astrid Lindgren, aber wir befinden uns eine offene Grenze weiter auf der Landkarte: in Finnland. Es sieht jedoch zunächst nur harmonisch aus. Die Zeiten sind technologisch – und nicht familienfreundlich – aufgeladen. Die drei Kinder am Frühstückstisch haben ihre akustischen Knöpfe im Ohr und spielen mit dem I-Phone. Auf Gespräche mit dem Vater haben sie keinen Bock. Der Bruder des Familienvaters verliert gerade seinen Manager-Job samt Dienstwagen und der Sicherheit seines Lebensstils, weil er sich verspekuliert hat, auch mit eigenem Geld. Alle Ersparnisse futsch. Die Ehefrau ist dann auch weg, erst einmal.
Beide in Helsinki lebende Männer sind Söhne eines skurrilen Alten mit Trapper-Fellmütze, Grump (Heikki Kinnunen), der einen Autounfall baut, als ihm zwei Buben vor den Wagen laufen, und der nach dem Crash mitansehen muss, wie sein alter, immer noch schmucker weinroter Opel Escort, Baujahr 1972, auf der Schrotthalde zu Blech zerkleinert wird. Er will wieder die gleiche Marke. Bloß nichts Neues. Im Internet findet er einen Verkäufer im Rheinland. Also los. Aber die Regeln und Rituale der smarten Gegenwart, ob auf der Bank, am Flughafen oder im Bordell, lassen den eigenbrötlerisch grummeligen Farmer zum unheiligen Narren werden. Denn das Missverstehen, als er bei der Ankunft nach »Escort« fragt, bringt ihn nicht zum Autoladen, sondern zu käuflichen Damen. Auf der Reeperbahn nachts um… usw. Und dann wird er noch ausgeraubt und niedergeschlagen.
Meister des Understatements
Danach geht’s aufwärts: unterwegs im Wohnmobil mit seinem älteren Bruder Tarmo (Kari Väänänen), zu dem Grump eine halbe Ewigkeit, 50 Jahre lang, keinen Kontakt hatte und der in Deutschland und anderswo lebt: eine nomadische Existenz, ehemals Fremdenlegionär, Seemann und immer noch Vagabund. »Verdammt lang her«, wie BAP dann im Autoradio singt.
Während Grumps Söhne Pekka (Ville Tihonen) und Hessu (Likka Forss) in der Zwischenzeit den Hof ihrer Kindheit beackern und zu sich selbst und dem Anderen und in ihre Kindheit heim finden, müssen sich die zwei Grauköpfe, der Sesshafte, der den elterlichen Hof übernommen hat und auf der Scholle blieb, und der fahrende Geselle, wieder aneinander gewöhnen. Im Spielcasino holen sie sich das gestohlene Geld beim Roulette zurück: 16 auf Rot gewinnt. Und sie holen sich den roten Escort.
Mika Kaurismäkis mehrfache Familienzusammenführung (es gibt noch Tarmos Tochter Maria, die als Kind von ihrem unsteten Vater verlassen wurde, und ein Enkelkind) ist eine ernste Komödie: über Lebensentwürfe und die selten damit identische Lebenspraxis zwischen Scheitern und Gelingen, Wünschen, Verlusten und falschen Entscheidungen, Unterlassungen und Bekenntnissen, Versöhnung und Verzeihen, Schwäche und Reue und vielem dazwischen (darunter auch der Erfahrung, dass ein Auto nicht alles ist). Darin sind die Kaurismäkis, beide Brüder, Aki und hier Mika, Meister. Auch Meister des Understatements, aber mit Gefühl – und dem Gesang von Zikaden.
»Grump«, Regie: Mika Kaurismäki, Deutschland / Finnland 2022, 109 Min., Start: 24. November