Ein Sprung ins Wasser und das tiefe Eintauchen ins weibliche Element. Danach die Verkleinerungsform: Das Auge der Kamera richtet sich nachdrücklich in eine Kloschüssel, in der etwas Blutiges weggespült wird. Von der Frau, die beides tut, schwimmen und entsorgen, sehen wir zunächst die nackte Haut ihres Rückens, die ihr Trikot frei lässt, bevor sie uns das Gesicht zuwendet und einen Hals mit Ekzemen zeigt. Nadja (Sarah Nevada Grether) hat in ihrer Vergangenheit getanzt und unterrichtet nun, obgleich noch nicht alt, Ballett-Elevinnen. »Es gibt kein heute im Tanzen«, sagt Nadja zu einer Schülerin, die glaubt, eine bestimmte Bewegung diesmal nicht leisten zu können. Der einzige Kommentar.
Eine verschlossene, spröde, wortkarge und kontrollierte Frau – katzenhaft autonom. Darin ist ihr die filmische Dramaturgie durchaus ähnlich, die nicht gängigen Erzählmustern folgt, sondern sich ihnen bis in die Detailfotografie, die Ausschnitte bevorzugt, als gäbe es keine Ganzheit (schon gar nicht die des Körpers), widersetzt. Sie ist widerspenstig, eigensinnig, radikal subjektiv und tief umschattet, was eine gewisse unheimliche Atmosphäre erzeugt. Ein Film, der dem Dunkel nicht auweicht.
Nadja und ihr bei der Großmutter aufgewachsener halbwüchsiger Sohn Mario (Emil von Schönfels) haben ein distanziertes Verhältnis, wohl auch, weil sie sich sehr ähnlich sind. Seine Frage an sie, »Wie hast Du mich empfangen?« obwohl sie damals die Pille genommen hatte, zeigt, wie viel – ungesagt – zwischen ihnen steht. Auf seine Weise ist auch Mario extrem: ebenso kontrolliert, willensstark und diszipliniert. Wir besuchen mit Nadja eine SM-Show, bei der maskierte Männer schwere Gewichte an ihrem Geschlechtsteil tragen und diese Tortur möglichst lange aushalten müssen. Ihr Sohn Mario gewinnt den Wettbewerb. »Du kokettierst mit dem Publikum«, stellt Nadja nach der Vorstellung professionell nüchtern fest: Respektiert würde aber derjenige, der es ignoriert.
Emotionale Trostlosigkeit
Als sich Mario nackt vor dem Spiegel betrachtet, wie Narziss im Quell, berührt Nadja ihn und kniet sich vor ihm hin. Was dann passiert, blendet »Grand Jeté« aus, aber wir ahnen es. Sie sind ein Liebespaar geworden, wie einige intime Situationen später zeigen, etwa wenn sie Mario befriedigt, während sie ihn abhört, als er ein Gedicht des expressiven Jakob van Hoddis für den Schulunterricht rezitiert.
»Für dieses Wort Mutter gibt es kaum einen Atem, so riesig ist es«, hat die Regisseurin Isabelle Stever in einem Interview zu Protokoll gegeben. Zwischen Iokaste und Medea reicht die Spannweite, so könnte man sagen.
Anstoß erregt in »Grand Jeté« nicht das Sexuelle – dies hat etwas von Bergmans moralisch nicht zu befragender, radikaler Entblößung. Vielmehr das undramatisch mitgeteilte, Irritation provozierende Beziehungslose: die emotionale Trostlosigkeit auch in der Beziehung Nadjas zu ihrer Mutter Hanne (Susanne Bredehöft), die wiederum korrespondiert mit der Sterilität der Orte wie Hannes Wohnhöhle, die grünlich-grau verputzte Wohnung Nadjas, ein Fitnessstudio und die Unterwelt eines Berliner Clubs. Die sublimierte, exquisit kondensierte Erotik der Ballett-Bühne in der russischen und französischen Tradition gerät hier harsch aneinander mit der Direktheit des Alltags, Trainings, Gewicht-Haltens, der Körperbeugung, der Lust und des Verlangens. Das Beunruhigende an »Grand Jeté« ist, dass der Körper hier lautlos schreit und sich nimmt, was er braucht. Am Ende singt eine Stimme das Schlummerlied »Hush Little Baby«, als wäre die Kindheit nicht vorüber gegangen.
»Grand Jeté«, Regie: Isabelle Stever, D 2022, 100 Min., Start: 11. August