Kindermund tut Wahrheit kund. Im Vorspann richtet ein süßes Mädchen einen vom »Kleinen Prinzen« übernommenen Appell an uns, dass wir auf unser Herz hören mögen. Die Musik, die dann erklingt, lässt eher an den Sound für eine klassische Screwball Comedy erinnern. Weit gefehlt! Matthias Glasner entwickelt über drei lange Stunden einen actus tragicus: »Sterben« zeigt, wie der Mensch gelebt hat.
Keinem geht’s gut. Lissy Lunies sieht nicht mehr richtig, humpelt, ist inkontinent und bekommt einen Herzinfarkt, hat Diabetes und Krebs. Ihr Mann Gerd ist mindestens dement. Das Paar, gar nicht mal so alt, lebt bescheiden in Winsen an der Luhe. Die Nachbarin kümmert sich für acht Euro pro Stunde um sie. Ein Versicherungsvertreter taucht auf, um die Pflegestufe festzulegen und keinen Wechsel in eine höhere Kategorie zu befürworten. »Sterben« über das Elend des Alters mit seinen Gebrechen und der Hilflosigkeit ist hier eine deprimierende Sozialstudie. Corinna Harfouch geht allerdings bis zum bitteren Ende mit einer wunderbaren Würde durch ihre Geschichte – und neben ihr Hans-Uwe Bauer ebenfalls. Die Lunies’ haben einen Sohn und eine Tochter, bei denen es auch nicht zum Besten steht. Tom ist Dirigent, lebt in Berlin in halb offenem Beziehungsstatus und wird gerade Vater, jedenfalls indirekt. Es ist das Kind seiner Ex Liv, während Moritz der Nachfolger und reale Erzeuger weniger Anteil an der Geburt nimmt. Ellen, die erst zur Mitte des Films erscheint, verliebt sich wild in den Zahnarzt Sebastian (Ronald Zehrfeld), der jedoch verheiratet ist und zwei Kinder hat. Barbra Streisand würde sagen: c’est la Pech. »Sterben« ist hier ein zwischen Melodram und Groteske changierender Zwitter.
Glasner, der neben Andreas Dresen den deutschen Film im Wettbewerb der Berlinale 2024 vertrat, gliedert seine Geschichte in Kapitel entlang der Hauptpersonen, deren jeweilige Perspektiven erneut den Anfangspunkt der Erzählung wiederaufnehmen. Ob das schon genügt, um ihm den Silbernen Bären für das Beste Drehbuch zu verleihen? Ein Votum, das mindestens bei dem stilempfindlichen Jurymitglied Christian Petzold verwundert. »Sterben« schlägt ein Pathos der Wehleidigkeit an, das sich hinter seiner ruhigen Nüchternheit schwerlich verbirgt.
Die Abwesenheit von Liebe
Lars Eidinger als Tom, der behauptet, er wüsste nicht, was er sagen soll, aber drauflos redet, outriert mit seinem sanft intensiven Wollmützen-Gesicht, was Glasner eher befördert, als verhindert. Tom ist wahnsinnig beschäftigt, ihm ist alles ein bisschen viel, was er in seiner Haltung beständig spiegelt. Er probt die sinfonische Uraufführung seines Freundes Bernard Drinda, die »Sterben« heißt und die Welt ausmalt, als wäre sie der inklusive Kinderchor von Gustav Mahler. Der schwer depressive Komponist (Robert Gwisdek) interpretiert seine Partitur, die Musiker*innen des Jugendorchesters schauen skeptisch. Saurer Kitsch! »Kitsch ist, wenn ein Gefühl die Wirklichkeit nicht erreicht«, so sagt es dieser Drinda, der zu leben nicht aushält, aber posthum Ehrung erfährt.
»Sterben« zerredet seine Geheimnisse, statt sie zu wahren. Glasner füllt die Lücken, deren Untiefe wir aushalten müssten, mit Worten aus und einer behaupteten Radikalität, die zudringlich ist oder lachhaft (wie die Zahnarzt-Szenen). »Alle reden immer viel zu viel«, sagt Corinna Harfouch. Nur die Bilder muten uns manchmal etwas zu, das über Gefälligkeit oder disparate Exzentrik herausragt und im Stillstand den Schmerzpunkt erreicht, etwa bevor Gerd Lunies stirbt und seine Asche im Wald bestattet wird. Und es gibt den uns kurz elektrisierenden zentralen Dialog von Mutter und Sohn, der die Abwesenheit von Liebe zwischen ihnen bloßlegt.
Worum geht es also? Um das ganz Große, den Sinn des Lebens und die Schwierigkeit, es zu leben, eingeklemmt zwischen Geburt und Tod, Liebessehnsucht, Einsamkeit, Versäumnis und Verlassen-Werden und der schwärenden Wunde des Eltern-Kind-Konflikts. Aber Glasner ist nicht Ingmar Bergman. Und erst recht nicht Pedro Almodóvar: Man stelle »Sterben« neben dessen »Leid und Herrlichkeit«, um zu wissen, wie ein genresprengender Film radikaler Existenz-Zergliederung zu sein hat, ohne einem Scham und Pein zu bereiten und den Rückfall in den Empfindungsbrei einiger Werke des ehemals Neuen Deutschen Films zu befürchten. ***
»Sterben, Regie: Matthias Glasner, D 2024, 180 Min., Start: 25. April 2024