»Das größte Kriegsverbrechen ist der Krieg selbst.« So steht es als Motto über diesem Film, gewidmet dem Gedenken des 2023 gestorbenen Benjamin Ferencz, Chefankläger der USA bei den Nürnberger Prozessen 1945 und damals ein sehr junger Mensch von Mitte Zwanzig, der diesen Satz gesagt hat. Eine ethisch begründete, von ihm unerbittlich vertretene Position. »Rache erzeugt Rache.« – dies seine Erkenntnis, gewonnen nicht allein aus der antiken Tragödie.
Mehr noch, es gelte, die Verantwortlichen früh- und vorzeitig zu warnen, überhaupt ihre Aggression zu starten, wie Ferencz im Interview sagt. Selbst falsche Entscheidungen müssten dafür in Kauf genommen werden. Der Preis für den Frieden könne hoch sein, um unsere zivilisatorischen Errungenschaften zu beglaubigen.
Ist diese Überzeugung ganz richtig? War der Krieg gegen Hitler-Deutschland, ist der vereinte Kampf gegen den Angriff von Putins Russland nicht gerecht (gewesen)? Wurde und wird er nicht geführt, zumindest auch oder vorrangig geführt, um Kriegsverbrechen zu verhindern oder wenigstens zu beenden? Wie lassen sich die furchtbaren regulären Folgen eines jeden Krieges gegen verpönte Kriegsverbrechen abwägen? Immer werden Zivilisten Opfer sein, man denke nur an die Bombardements von Coventry, Hamburg oder Dresden, an die Auslöschung ganzer Städte und Landstriche in der Ukraine – oder die Zerstörung von Gaza. Wo verläuft die Grenze? Der Krieg lebt auch von sich selbst, das wusste Brecht und zeigt es in seiner »Mutter Courage«.
1998 wurde von 120 Staaten in den »Römischen Statuten« beschlossen, den ständigen, unabhängigen Internationalen Gerichtshof (ICC) zu etablieren, um Angriffskriege, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord zu ahnden. Die Statuten unterscheiden: internationale Konflikte, in die die Führer der jeweiligen Länder ihre Völker bringen oder zwingen; und nationale Konflikte wie Bürgerkrieg und Rebellion.
Ein Beispiel: der Kongo und sein Machthaber Thomas Lubanga Dyilo, dem als erstem ICC-Angeklagten der Prozess gemacht und der schließlich zu 14 Jahren Haft verurteilt wird. Oder Libyen 2011, der Aufstand gegen Gaddafi und dessen mörderische Gewaltreaktion. Um dem Einhalt zu gebieten, stimmt der UN-Sicherheitsrat für die Anklage Gaddafis und militärische Intervention; jedoch schuf das Ergebnis ein staatliches Chaos, nicht anders als etwa in Afghanistan, im Irak oder in Syrien.
Der ICC hat eine Schutzfunktion, falls die betreffenden Staaten seine Rechtmäßigkeit anerkannt haben. Hier liegt ein gravierendes Problem. Große Player wie die USA und Russland sind nicht Mitglied. 2003 wird zum ersten ICC-Chefankläger der Argentinier Luis Moreno-Ocampo ernannt, gewissermaßen durch die Prozesse gegen die abgesetzte Militär-Junta in seiner Heimat in den 1980-er Jahren »trainiert«, wie er sagt. 2012 gibt er sein Amt ab. Auch sein derzeitiger Nachfolger Karim Khan kommt zu Worte.
20 Jahre später sehen wir Moreno-Ocampo, wieder in Den Haag, eine Rede vorbereiten, in der er sagen wird, die Staaten müssten die Regeln für den ICC in der zentralen Frage der Zuständigkeit ändern, ansonsten sei es Heuchelei. Der Vorwurf von Doppelmoral und Politisierung, wie ihn China erhebt, lässt sich wiederum als interessegeleitet abtun.
Eine Fülle an Fällen, altem und neuem Material und zeitlichen Ebenen bringt die Langzeitbeobachtung »War and Justice« von Marcus Vetter & Michele Gentile zusammen, trägt sie ab und legt sie dar im Dienst von Reflexion und Veränderung. Und dies im Feuerschein der virulent bedrohlichen Gegenwart, für die ein Dritter Weltkrieg nicht mehr ausgeschlossen ist. Putins Kriegserklärung 2022 wird zitiert, Joe Bidens Antwort, Selenskys Ansprache vor dem US-Kongress.
Es ist eine Chronik der Erfolge und der Niederlagen und vergeblichen Anstrengung, mangelnder Konsequenz, politischer Widerstände und tiefer Enttäuschung. Wir sehen Ausschnitte aus Verhandlungen, die Schreckliches zu Tage fördern, hören Interviews, mehrmals mit Ferencz, der beratend für den ICC gewirkt hat. So zieht der Film eine historische Linie: von der Katastrophe der NS-Gewaltherrschaft und ihrer Akteure und der pervertierten Logik einer Notwendigkeit zur »Selbstverteidigung«, weshalb sie ihre Feinde, imaginierte, künftige, mögliche ausrotten mussten. Bis hin zu Schauplätzen in Europa, Afrika, Asien und Südamerika und dortigen Verbrechen von Staaten, Regimes und Einzelnen, die nach ähnlichem Muster ihr Handeln zu rechtfertigen suchen. Sogar Barack Obama sprach von »militärischer Gewalt aus humanitären Gründen« mit Blick auf den Balkan und Afghanistan.
Hier Irak-Krieg, dort Syrien-Krieg, hier der 11. September, dort seine Folgen mit dem Foltergefängnis von Abu-Ghraib. Und der Gaza-Krieg 2008 (wobei strittig ist, ob die Palästinenser staatliche Souveränität beanspruchen können, damit der ICC tätig werden kann) und sein Erbe bis heute, das mit den abscheulichen Untaten vom 7. Oktober 2023 in eine weitere Stufe trat. Mit Bildern des Hamas-Terrors und Israels Antwort darauf endet der Film: Panorama der Vernichtung – und dennoch Hoffnung auf die Durchsetzungskraft der Justiz. *****
»War and Justice«, Regie: Marcus Vetter & Michele Gentile, D 2023, 90 Min., Start: 6. Juni