Was für ein (melo)dramatischer Beginn! Eine Vivaldi-Arie, gesungen von Philippe Jaroussky, und dazu in Zeitlupe eine minutenlange Zerstörungsorgie. Es fliegen: Schallplatten, CD-Hüllen, Notenblätter, Blumen und Vasen, Utensilien aller Art und Farbe gegen eine monochrom helle Zimmerwand. Daran beteiligt: drei Frauen, Mutter und Töchter. Streit, Zorn, ein Schlag ins Gesicht der Älteren, ein Sturz auf die Tastatur des Flügels und Bändigung der Jüngeren, die zwei Männer aus dem Haus schaffen – in die gläsern kalte und graue Schneelandschaft, auf die kein Sonnenstrahl fällt.
Die Mutter: Christina Celestini. Die Tochter: Margaret, die nach der Attacke Kontaktverbot erhält und unter Polizeiaufsicht ihre Sachen packen muss, vor allem ihre Gitarre. Noch mit Blutergüssen gezeichnet, schellt sie bei ihrem ehemaligen Freund und musikalischem Partner, der sie aufnimmt. Die Leute in der schweizerischen Kleinstadt vor alpiner Kulisse, wo jeder jeden kennt (und wo auch Ursula Meiers Film »Winterdieb« spielt), schauen auf ihre malträtierte »Fresse«, lästern und spotten.
Es sind drei Schwestern: die 35-jährige Margaret, die brav verheiratete Louise (India Hair) und die erst zwölf-jährige Marion. Mutter Christina (Valeria Bruni Tedeschi), selbst Pianistin und Musiklehrerin, behält einen Gehörschaden von dem Vorfall und ist fortan berufsunfähig. Ebenfalls instabil, leicht aus dem Lot zu bringen und allürenhaft, hat Christina sich einen neuen (jüngeren) Liebhaber, Hervé, angelacht.
Margaret singt und spielt Gitarre, hat aber mir ihrer Begabung nichts gemacht und jobbt jetzt im Wachtdienst eines Shoppingcenters. Aber sie beginnt, ihrer kleinen Schwester Gesangsunterricht zu geben. Der gemeinsame Weihnachtsabend – mit Margaret auf Abstand draußen in der Nacht – kann kein Friedensfest werden.
Für Marion (Elli Spagnolo), die zwischen ihrer Mutter und ihrer Schwester steht, ist es schwer, die Schwankungen der erwachsenen Frauen, die Differenz von Bindung und Lösung auszuhalten. Im Gebet, im Glauben, im Gottes-Dienst schafft sie sich Halt. Marion zieht über Straßen und Wiesen eine Linie mit Pinsel und blauer Farbe, um die Tabuzone zu bezeichnen: 100 Meter Entfernung zum Haus sind die Regel. Margaret (Stéphanie Blanchoud) aber gibt nicht Ruhe, physischer Zugriff, körperliche Aktion ist immer die erste Regung. Keine Kontrolle – sie hat sich nicht in der Gewalt. Anspannung, Ingrimm und Abwehr liegen in ihrer Miene. Wenn sie jedoch Musik macht und ihre eigenen traurigen Chansons singt, besänftigt sie sich und kommt zu sich, wenn sie gegen Ende der Geschichte ein Konzert gibt.
Im Gegensatz zu dem furiosen und rabiaten Auftakt ist der Stil Ursula Meiers ansonsten zurückhaltend, beobachtend, wohltemperiert mit Gespür für das Abweisende unserer Zivilisation und ihre Bruchstellen, die sie aber vor allen in der Psyche ihrer Figuren sucht und findet. Zwischen Christina und Margaret lässt sich die Ferne nicht überwinden. Sie bleibt bestehen – und als äußeres Zeichen auf Margarets Stirn eine Narbe. ****
»Die Linie«, Regie: Ursula Meier, Schweiz / Frankreich / Belgien 2022, 101 Min., Start: 18 Mai