Wir hören die Geschichte eines Mädchens, das in seinen 17-jährigen Mitschüler Yamaga verliebt ist, sich in dessen Elternhaus schleicht, wenn niemand dort ist, sein Zimmer betritt, die Luft einatmet, das Schweigen in sich aufnimmt, sich unters Bett legt, dem Drang widersteht, zu masturbieren. Sie gehorcht ihren Ritualen, vielleicht hinübergenommen aus einem früheren Leben.
Eine Frau, Oto, erzählt dies ihrem Mann Yusuke Kafuku. Sie liegen zusammen im Bett, während draußen Lichter der Stadt die Nacht aufhellen. Wir erfahren, dass es sich dabei um die Idee für einen Fernsehfilm handelt. Oto, die Drehbuchautorin, sucht ein Thema und schmückt es aus, entwirft Details und verwirft sie, ob das Mädchen vielleicht pervers sei oder jedes Mal einen Gegenstand aus dem Zimmer entwende oder vielmehr ein Zeichen hinterlasse. Ungerührt sind beide beim Erfinden. Profis, die ihr Musterset durchstöbern. Künstler, die sich kreative Ideen, stimuliert durch vorherigen Sex, zuspielen. Otos Geschichte hat eine Fortsetzung, aber die wird jemand anders Yusuke erzählen. Man weiß nicht, ob das Erfundene Lüge ist.
In der folgenden Szene erleben wir Becketts Wladimir und Estragon auf der Bühne, die vergebens auf Godot warten und doch ihren Platz nie verlassen, denn morgen kann er ja kommen. Einer der Darsteller ist Yusuke. Der Schauspieler und Regisseur verabschiedet sich bald darauf von Oto, um Tschechows »Onkel Wanja« vorzubereiten. Im Auto zum Flughafen hört er in die Dialoge des Dramas hinein, das Oto für ihn aufgenommen hat. Nachdem sein Flug gecancelt wurde, fährt er zurück und beobachtet, ohne gesehen zu werden, Oto mit einem anderen Mann beim Sex, während auf dem Schallplattenspieler Mozart plinkert. Yusuke verlässt still das Haus. Er lässt sich nichts anmerken.
Plötzlich ist Oto tot, Hirnblutung, einfach so. Damit, und mit einer Szene aus »Onkel Wanja«, endet der 40-minütige Prolog – und die Zeit schreitet innerhalb einer Sekunde um zwei Jahre voran. Yusuke wurde als Regisseur für ein Projekt zum Theaterfestival Hiroshima eingeladen, wo man darauf besteht, dass er einen Fahrer bekommt: Misaki.
Yusuke (Hidetoshi Nishijima) bleibt unterwegs, ob zu Beckett, Tschechow oder zu sich selbst, erzählen doch die traurigen Komödien dieser Dramatiker davon, was das Leben und die Liebe, Einsamkeit und das Unglück der Nutzlosigkeit mit den Menschen tun. Wanja ist jemand, der nicht lebt, sondern von einem Leben, das er gern geführt hätte, redet, während andere tun, was nur in seiner Vorstellung existiert. Aber auch bei denen ist Unglück – Untreue, Verzweiflung, Trauer, Misslingen. Und in jedem von ihnen die Selbstlüge.
Yusuke castet ein internationales Ensemble, darunter Koshi Takatsuki, den seine Frau ihm vorgestellt hatte und von dem er weiß, dass er eine Affäre mit Oto hatte. Dem schönen Jüngling gibt er die Wanja-Rolle des Enttäuschten, Übrigbleibenden, Nebensächlichen. Zwischen den Männern entwickelt sich ein psychologisch raffiniert ausgeleuchtetes Zwiegespräch, in dem während des Entstehungsprozesses der Aufführung beide ihre Geheimnisse gleichermaßen hüten und teilen.
Haruki Murakami lieferte die Vorlage für den spröde intensiven, absolut konzentrierten Film, der sich mit drei Stunden mehr Zeit nimmt, als das geschriebene Wort. »Drive my Car« von Ryusuke Hamaguchi ist von lautloser Durchschlagskraft. Es gibt bereits einen Film, der sich von Tschechows Drama den Stoff griff, um ihn über Schauspieler-Leben zu legen: Louis Malles »Vanya on 42nd Street«. Yusuke fürchtet sich, selbst Wanja zu spielen: Tschechow würde ihm die Seele bloßlegen. Schließlich tut er es doch, muss es tun. Die Rolle der Sonya übernimmt die taubstumme Koreanerin Yoon-A in Zeichensprache. Das Unausgesprochene und Unaussprechliche sowie die Grammatik der Zeichen sind es, die »Drive my Car« durch Hell und Dunkel lenken. Darin enthalten die Lüge, das Leiden, Sterben und unterlassene Hilfeleistung, die Schmerzen der Fantasie und die Gnade des Mitleidens.
»Drive my Car«, Regie: Ryusuke Hamaguchi, Japan 2021, 180 Min., Start: 23. Dezember