Der Liebesakt, den wir zwischen Marlena und Tomek am Anfang ausgiebig hören und sehen, er muss nicht unbedingt Nähe und Innigkeit verkörpern. Er kann auch Ausdruck von eigener Selbstvergewisserung und sich des Anderen Gewiss-sein-Wollens bedeuten. Darauf verweist vielleicht auch schon der Titel des Films von Tomasz Wasilewski: »Die Verlorenen«, wobei »Glupcy« eher mit »Die Törichten« zu übersetzen wäre. Was aber hat sie so werden lassen?
Dann meldet sich das Handy. Die Frau (Dorota Kolak) steht auf, geht hinaus, öffnet die Tür – vor sich die Ostsee, deren Wellengang bis an der Schwelle des Eingangs zu reichen scheint. Gefolgt von betörend schönen Natur-Panoramen von grün bewachsenen Ebenen und von Sandstränden. Lebt dieses Paar womöglich wie auf einer Insel in der bewegten See, die immer wieder tosend und rauschend oder ganz still ihre Anwesenheit mächtig behauptet und über die Tonspur auf uns eindringt.
Spielt die Einbildung Marlena etwas vor, welcher Aufruhr flutet in ihrem Innern? Sind es Traumbilder, die in die Tagwelt und ihre Realität Einkehr halten? Der Himmel steht vor den Fenstern, als würde das Draußen hinein wollen oder die Wacht halten. Überhaupt erscheint die in kalten, bleichen und giftigen Farbtönen ausgemalte Wohnung bühnenhaft und alle übrigen Räume und Handlungsorte der Filmerzählung in sich zu enthalten und einzuschließen. Eine umdüsterte Kulissenwelt, im Zerfall befallen. Nur die Natur – das Meer, der Wald – hat hier eine gewissermaßen menschliche Wahrheit.
Der kranke Sohn
Die Wasser-Metaphorik begleitet uns durch die Geschichte: bei Marlenas Strandgängen oder wenn Tomasz in der Badewanne sitzt und planscht. Das Paar fährt in eine Krankenanstalt, um den 41-jährigen Sohn Mikolaj zu holen, der dort offenbar schon seit langem, ohne Kontakt zu ihnen, untergekommen ist, während seine Schwester die Mutter Marlena über seinen Zustand informiert, zu der sie offenbar in einem distanzierten Verhältnis steht. Mikolaj bekommt einen schweren Anfall. Marlena selbst ist Ärztin. Tomek (Lukasz Simlat), dem die Vorstellung unbehaglich ist, den Kranken bei sich in der Nähe zu haben, wusste nichts von dem telefonischen Kontakt, den Marlena während der vergangenen Jahre zu ihm unterhalten hatte. Die Spannung zwischen dem jüngeren Mann, der nicht Mikolajs Vater ist, und der etwa 60-jährigen Frau ist körperlich fühlbar. Allerdings auch ihrer beider erotische Anziehungskraft und obsessive Abhängigkeit.
Sie wuchten und tragen den gelähmten und gekrümmten Sohn (Tomasz Tyndyk) mit dem langen schwarzen Haar und verwilderten Bart und in Windeln gewickelt, mühsam auf einer Bahre ins Elternhaus. Der Leidende, bedeckt mit Wunden, hat das Aussehen eines biblischen Eremiten, wenn nicht gar des Gekreuzigten wie auf einem Gemälde Alter Meister. Am nächsten Morgen haben sich Möwen auf seinem Bett gesammelt, wie Boten aus dem Jenseits. Mikolaj liegt wie ein Toter da, nicht ansprechbar; manchmal gibt er gurgelnde Schreie, Heulen oder Wimmern von sich.
Tomek verschwindet. Marlena kümmert sich allein, säubert und versorgt ihr großes hilfloses Kind, strapaziert bis zum Äußersten, so dass sie ihn einmal aus lauter Verzweiflung schlägt, außer sich geratend. Dann ist Mikolaj tot, die Bestattungsunternehmerin referiert emotionslos die einzelnen Kosten-Positionen für die Beisetzung, Tomek ist wieder da, und auch Mikolajs Schwester kommt trauernd zurück.
Was ist geschehen? Der Film hält es offen bis auf einen einzigen Satz in den letzten Minuten, der ein mythisches Schicksal enthüllt. Wuchtig in seinem visuellen Eigensinn und exquisit ästhetisch komponiert (Kamera Oleg Mutu), bildet die Gestaltung einen irritierenden Kontrast zum Harschen und Verhärteten des Erzählten, das das tragisch Unausweichliche, Verhängnishafte berührt und darin von Marlenas / Dorota Kolaks maskenhaftem Gesicht getragen wird, das aus der Antike einer Medea, Iokaste oder Klytämnestra herüber zu wachsen und über uns zu kommen scheint.
»Die Verlorenen«, Regie: Tomasz Wasilewski, Polen / Deutschland / Rumänien 2022, 105 Min., Start: 7. September