Aufmarsch des Bataillons in der École Militaire am 22. Dezember 1894, um einen Mann zu demütigen: des wegen Hochverrats verurteilten, degradierten und auf die Teufelsinsel verbannten Hauptmanns Alfred Dreyfus. Er, einziger Jude im französischen Generalstab, war vielen schon einer zu viel, wie höhnische Witzeleien zeigen, den das Ritual begleiten – sein Säbel wird zerbrochen, die Ehrenzeichen werden von der Uniform gerissen. Das heilige christliche Frankreich muss rein bleiben. Was das Ausmaß von Antisemitismus betraf, hielt man während des 19. Jahrhunderts kaum etwas für unmöglich – in Frankreich.
Roman Polanskis Filme reiben sich oftmals an Schmutz- und Blutflecken einer Gesellschaft. Nicht, um sie wie Lady »Macbeth« (1971) zum Verschwinden, sondern um sie zum Vorschein zu bringen, etwa in »Der Mieter« (1976), »Der Pianist« und nun in »J’accuse«. Dessen Originaltitel zitiert den offenen Brief an Staatspräsident Félix Faure, mit dem Émile Zola das Unrecht an Alfred Dreyfus anprangerte und damit die Republik, Armee und Justiz in ihren Grundfesten erschütterte. Aber das Stigma zeigt sich bei dem im Schicksalsjahr 1933 geborenen Juden aus Krakau auch in verschlüsselter Form: in Polanskis Meisterwerken der 60er Jahre »Ekel« und »Rosemaries Baby« sowie 1979 in »Tess«.
Eine Studie über Macht und Ohnmacht
Polanski stellt sich ganz in den Dienst der Geschichte, auch wenn seine vermutlich eigene Identifikation mit dem ‚Fall’ Dreyfus problematisch wäre. »Intrige«, in Venedig mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet (Protesten zum Trotz gegen den des wegen sexuellen Missbrauchs im Zwielicht stehenden Regisseur), ist inszeniert als klassische, intensive Studie über Macht und Ohnmacht, den Gewissenskonflikt des Einzelnen und Kadavergehorsam und Feigheit. Der Offizier Marie-Georges Picquart (Jean Dujardin), galanter Liebhaber schöner Frauen, verwöhnter Lebemann und nicht zum Antihelden geschaffen, wird zum Chef der militärischen Spionageabwehr befördert. In der Behörde findet er für Dreyfus (Louis Garrel) entlastendes, unterschlagenes, bewusst falsch interpretiertes Material. Als er selbst Pressionen ausgesetzt ist und sieht, dass aus seinen Erkenntnissen keinerlei Konsequenzen folgen, wendet er sich an die Öffentlichkeit. Nur wer im Glashaus sitzt, kann mit Steinen werfen. Die Staatsaffäre ist längst historisch, ihr Stoff jedoch nur zu akut.
»Intrige«, Regie: Roman Polanski, F 2019, 120 Min., Start: 6. Februar 2020