Märchen beginnen so: Zwei, die sich im Wald verlaufen; es droht, dunkel zu werden; Geräusche im Unterholz, Tierlaute. Doch dann finden die beiden jungen Männer, Felix und Leon, das Haus weitab vom Dorf an der Ostsee – in gewissem Sinne auch ein Hexenhaus. Die Waschmaschine läuft, Reste von kalter Lasagne stehen auf dem Tisch. Jemand ist schon da. Felix’ Mutter, die das Ferienhaus bei Ahrenshoop besitzt, lässt dort Nadja wohnen, die während der Sommersaison an der Kurortpromenade Eis verkauft.
Das Kino lebt von abwegigen Geschichten, von Umwegen und Zufällen, die wir auch Schicksal nennen können – wenn ein Film »Roter Himmel« heißt, dann erst recht. Es dauert eine ganze Weile, beinahe eine halbe Stunde, bis Nadja (Paula Beer) und die Neuankömmlinge ins Gespräch kommen. Gehört haben sie sie schon, des Nachts, wenn Felix und Leon im Nebenzimmer schlafen und die Geräusche eines sich liebenden Paars von den dünnen Wänden nicht abgehalten werden. Und Leon hat ihr auch schon hinterher geschnüffelt.
Ein Arbeitsurlaub soll es sein. Felix (Langston Uibel) – Frohnatur und herzlich – muss für die Bewerbung an der Universität der Künste in Berlin als Fotografie-Student eine Mappe zum Thema ‚Wasser’ vorbereiten. Leon (Thomas Schubert) sitzt am Manuskript seines zweiten Romans und erwartet den Verleger Helmut (Matthias Brandt) zum Lektorat. Vielleicht nicht nur deshalb ist er besonders dünnhäutig. Während die Anderen – hinzu kommt der Bademeister Devid (Enno Trebs), zunächst als Nadjas Liebhaber – mit sich im Reinen scheinen und die Tage leicht nehmen wie in einem Eric-Rohmer-Film, hadert Leon mit ihnen und ist vor allem in sich selbst verquer. Er beobachtet, registriert, analysiert, wirkt abweisend, schwerfällig und missmutig, störrisch oder stoisch, als nähme er den Dreien übel, dass sie sich in ihrer Haut wohl fühlen und ihre Körper diese Selbstsicherheit auch herzeigen.
Hoffnungsvoll traurig
Am Strand behält Leon seine Klamotten an, bei Tisch ist er provozierend wortkarg und behandelt Devid verletzend herablassend. Wir spüren, dass es dabei um Nadja geht: Molières Misanthrop Alceste, der sich nach der umworbenen Célimène sehnt. Als Leon ihr sein Manuskript anvertraut, liest Nadja es und bewertet es als »Bullshit«, was er ja wohl doch selbst wüsste. Sein Verleger sieht es ebenso. Leon erfährt eine Schaffenskrise, wenn es nicht ein zu großes Wort wäre und nicht auch verkehrt klänge. Erfahrungsmangel trifft es eher.
Christian Petzold ist seit seinen Anfängen und hier in seinem zehnten Kinofilm (neben weiteren fürs Fernsehen) der stilistisch geradlinigste und feinsinnigste deutsche Regisseur, der seine formale Erzählkunst eher dezent unterspielt als sie ausstellt. »Roter Himmel« – auf der Berlinale mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet (für die beste Regie, für das beste Drehbuch wäre es ebenso verdient) – ist ein hoffnungsvoll trauriger Film.
Die Natur gerät in Aufruhr. Der trockene Juli bringt die Gefahr von Waldbränden, die den Horizont entflammen. In der Luft tanzt plötzlich Asche, Helmut bekommt einen Anfall und muss ins Krankenhaus, Wildtiere flüchten in Panik. Eine Feuerwand steht auf, verwüstet das Land und holt sich ihr Opfer.
Und die ganze Zeit über brodelt es in Leon: Eifersucht, Verzweiflung, das Gefühl von Ausschluss, unfähig zu handeln, sich mitzuteilen, direkt zu empfinden und Empathie aufzubringen, unfähig zu trauern, ohne sogleich nachzudenken, wie diese Trauer zu formen sei. Leo muss aufschreiben, was in ihm ist, übersetzen in Ausdruck. Was ist das mit der Kunst, mit dem Künstler? »Es ist nicht so, dass man hoffen kann, sich schreibend über seine Trauer hinwegzutrösten«, schreibt Natalia Ginzburg in »Mein Beruf«. Leon (dank seines vorzüglichen Darstellers) ist Christian Petzolds Tonio Kröger. Er nimmt seine Einsamkeit an, um sie womöglich überwinden zu können.
Der Liebes- und der Katastrophenfilm kommen sich bei Petzold oft sehr nahe – ihre erschütternde Berührung verursacht ein Nachbeben. Nadja, die, wie sich zum Erschrecken Leons herausstellte, als Literaturwissenschaftlerin über Heines Gedichtband »Romanzero« promoviert, hat über ihn gewacht, indem sie das Falsche falsch nennt und indem sie fortgeht. Aber es ist nicht das letzte Wort, bleibt nicht der letzte Blick. *****
»Roter Himmel«, Regie: Christian Petzold, D 2023, 100 Min., Start: 20. April