1931–1980 – 2020. Alfred Döblins Großstadtroman von 1929 hat als Film eine Geschichte, die selbst Teil der Filmgeschichte ist. Kurz nach Erscheinen des Buchs drehte Piel Jutzi, in der Spätblüte des deutschen expressionistischen Films, das Kaleidoskop vom Verfall des Kleinkriminellen und Zuhälters Franz Biberkopf. 50 Jahre später schuf Rainer Werner Fassbinder, der in diesem Franz so sehr sein Alter Ego sah, dass er den Vornamen mehrmals als eigenes Pseudonym gewählt und die Hauptfigur in »Faustrecht der Freiheit« ebenso genannt hat, eine 14-teilige Serie, die einen einsam schroffen Höhepunkt des Neuen Deutschen Films markiert und die Essenz seines riesigen Werks darstellt, an dem der gesamte Fassbinder-Family mitwirkte. Kulturpessimismus und Einsicht in die condition humaine gestalten diesen Biberkopf zum Phänotyp: zu einer Figur, die ihren Platz neben Adrian Leverkühn, Thomas Manns Doktor Faustus, behauptet. Zwei Jahre später starb RWF.
Ins heutige Berlin
40 Jahre weiter: Deutschland in der Identitätskrise seiner Volksparteien, der Feind steht wieder rechts, Schutz Suchende, Anders-Gläubige, Anders-Farbige, Anders-Fühlende fürchten um ihre Sicherheit. Burhan Qurbani verortet Biberkopf im Berlin der Gegenwart und macht ihn zu Francis (Welket Bungué) aus Guinea-Bissau. Anders als der deutsche Biberkopf, dem nicht in den Schädel will, dass die Welt für ihn nichts bereit hält, ist der Afrikaner Francis der illegale Migrant, den seine als Farbfeuer inszenierte Flucht nach Deutschland spült, der »gut und anständig sein« will, Schlag um Schlag erhält und dem am Ende, wenn sich ihm das Tor der Strafanstalt Tegel öffnet, die Sonne scheint. Lassen sich so etwa Sonnenuntergangsschatten vertreiben?
Auch Francis / Franz trifft seine Mieze (Jella Haase), die es zur Luxus-Prostituierten in den Suiten der Fünf-Sterne-Hotels gebracht hat und Opfer der Männer bleibt. Und er begegnet seinem Dämon Reinhold im Aufzug des Wohnheims: Fahrstuhl zum Schafott. Reinhold ist Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Böse schafft, ist Versucher und Verführer und verkörpert das von ihm selbst aufgestellte Prinzip: »Der Mensch ist ein hässliches Tier, der Feind aller Feinde, das widrigste Geschöpf, das es auf der Erde gibt.« Albrecht Schuch als Reinhold – bleich, schlaff, mit hängenden Schultern, schlenkernd krumm, Neurosen-gesättigt – nimmt lauernd die Witterung auf. Als Franz’ irrlichterndes Gegen-Ich zieht er ihn in seine Verbrechen und Drogen-Deals im Tiergarten, über die als Boss Pums (Joachim Król) regiert, bringt ihm Verderben, macht ihn zum Krüppel, tötet ihm das Liebste.
Qurbani gliedert die Biberkopf-Passion, die Döblin auch angelegt hat als biblische Prüfung mit den Kategorien von Schuld und Sühne, zur fünfteiligen Moritat. Sie ist elegisch, symbolschwer, trancehaft, doch schwach in ihrem stilistischen Behaupten, und für drei Stunden fehlt die nötige Spannkraft. Das Antlitz des Schmerzes ist Schwarz. Aber reicht nicht heran an Fassbinders übergroßen Schattenwurf.
»Berlin Alexanderplatz«, Regie: Burhan Qurbani, D 2020, 180 Min., neuer Start: 25. Juni 2020