Die erste Reaktion erfolgt, kaum dass der Kran den Container in den Innenhof des Hauses bugsiert und derjenige, der die Aktion verantwortet und in Gang gesetzt hat, aus einem der Wohnungsfenster mit einem rohen Ei beworfen wird. Doch der Kasten, ein gläsernes Büro, Organisations-, Beobachtungs- und Machtzentrum, steht nun da. »Auf einmal«, um es mit dem Titel von Asli Özges Vorgängerfilm zu sagen, ist alles anders. Auch darin wurde ein Sittenbild gezeichnet, indem sich der Argwohn einer Kleinstadt gegen einen jungen Mann richtet, der ins Zwielicht gerät und unter Verdacht, den Tod einer Frau verschuldet zu haben.
Auch in »Black Box« sehen wir ins Innere, in einem doppelten Sinn: dieser Örtlichkeit in der Berliner Kastanienstraße und ihrer Bewohner. Ein Soziotop von Befindlichkeiten, wechselseitiger Beobachtung, schleichender Zersetzung. Die Fenster zum Hof sind auch Fenster in die Seelen.
Die Verwaltung, sie nennt sich EastWest-Management, untersteht einem Herrn Horn (Felix Kramer), der anscheinend selbst Miteigentümer an dem Haus ist und seine Vorstellung von Ordnung und Sicherheit durchzusetzen beginnt. Angefangen damit, dass auf dem Hof die stinkenden Mülltonnen so platziert werden, dass sie den Lehrer Dr. Bär (Christian Berkel) belästigen; offenbar wird auch ein provozierter Stromausfall vorbereitet und ein tragender Pfeiler im Keller absichtlich zerstört, um das Haus räumen und renovieren und Mieter abschrecken zu können, wie sich gegen Ende erweist.
Das Gerücht geht um, dass in die Bäckerei im Erdgeschoss eine Kunstgalerie ziehen soll, auch dass mehrere Wohnungen verkauft werden sollen oder es schon sind. Außerdem lässt Horn »Verhaltensregeln« verteilen. Die Mieter, zumindest einige, fühlen sich in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt und protestieren, mündlich und schriftlich. Eine von ihnen, Henrike Koch (Luise Heyer) hält die Augen offen und registriert alles, ist zunächst nicht skeptisch gegenüber den Neuerungen und klimatischen Verschiebungen, aber ihre Einschätzung verändert sich.
Horn bleibt verbindlich und allgemein: »Wir tun, was nötig ist«, als wolle er prophylaktisch den Ausnahmezustand begründen; er regt an, die Dächer mit Stacheldraht gegen Eindringlinge zu sichern, Kameras zu installieren und schürt die Atmosphäre von Schikane, Manipulation, Ungewissheit, Misstrauen und Bedrohung, die die Maßnahmen wiederum zu begründen helfen.
Ob ein Polizeieinsatz, der das Haus-Karree absperrt – niemand darf rein oder raus – weil er eine Terrorszene vermutet, zum Plan der Verunsicherung und Störungen gehört, bleibt im Vagen. Auf dem Dachboden findet man die noch warme Leiche eines Mannes. Eine junge Libanesin und ein Mann aus Dagestan werden verhört und gegen ihren Willen aufs Revier gebracht.
So spaltet sich die Hausgemeinschaft, wie auch der Film verschiedene Figuren und deren Perspektiven betrachtet, Koalitionen bröckeln und wechseln, und es treibt in eine sogar blutige Eskalation und zu erahnende Katastrophe. Manchmal, in einigen Kamera-Einstellungen, scheinen die Mauern und Außenwände des Gebäudes ein selbständiger Organismus zu sein, mit Augen und Fühlern, wie wir es aus Fritz Langs Klassiker »M« kennen. Dort ist eine ganze Stadt in Angst, hier zunächst nur ein einzelnes Wohnhaus. Aber der Radius weitet sich und bewegt sich vom mikrokosmisch Besonderen aufs politisch Ganze zu und erhält so bei aller Konkretheit parabelhaften Charakter. ****
»Black Box«, Regie: Asli Özge, D 2023, 119 Min., Start 10. August