»Die menschliche Bombe hältst du in der Hand, der Zünder ist gleich neben dem Herzen…« So singt François, ein 57-jähriger Mann im blau karierten Hemd mit grauem Haar, der kaum noch Zähne im Mund hat, singt eindringlich und wie unter Druck, als müsse der Text unbedingt raus, raus, raus. Wenn man sich den Aufruhr, die Erregungszustände und Störfälle vergegenwärtigt, wie sie »Auf der Adament« nicht nur in dem Chanson zu Gehör kommen, ließe sich eher vorstellen, das altmodisch schöne hölzerne Schiff befände sich auf stürmisch hoher See und nicht, dass es ruhig vor Anker liegt an den Quais des rechten Seine-Ufers. Um die Insel im Strom flutet der Verkehr der Metropole Paris.
Die Passagiere der »Adamant« sind Patient*innen, nur dass die ambulante Station dieser 2010 eröffneten Tagesklinik sich auf schwankendem Boden befindet, was wiederum keine schlechte Metapher für deren Krankheitsbild ist.
Sie haben psychische Probleme, sind nur eingeschränkt tauglich für die allgemeine Forderung des Tages, erhalten therapeutische Ansprache und Begleitung und dürfen und sollen sich kreativ betätigen, allein oder in Workshops. Die einen spielen in der Gruppe, andere musizieren, dichten, malen und zeichnen, nähen und kochen, erläutern ihre künstlerische Arbeit, veranstalten ein Filmfestival. »Gespräche sind sehr schwer.« Aber zu reden ist ein nahezu unaufhaltsames Bedürfnis. Wahn und Wirklichkeit sind nicht immer genau voneinander zu scheiden. Stimmen, Schwingungen und Unheilvolles verfolgen und treffen sie, von denen sie berichten und die sie in einem Grad empfindlich und labil sein lassen, dass sie der Welt, wie sie ist, schwerlich oder gar nicht gewachsen sind. »Ich habe meine Freiheit verloren«, flüstert eine alte Frau in duldender Gewissheit.
Jemand erzählt von Vincent van Gogh und dessen Bruder Theo sowie von zwei Figuren aus Wim Wenders’ »Paris, Texas« und dass für das Männer-Paar Travis und Walt er selbst und sein Bruder Vorbilder gewesen seien, ohne dass dies je erwähnt worden wäre. »Man versetzt sich in andere und glaubt, dass man so davonkommt.« Ein sogenannter Gesunder könnte dies wohl ebenso sagen.
Das ausgehungerte Gesundheitssystem Frankreichs lässt das Modell Adamant sozialutopisch oder beinahe auch wie eine Fantasie von Federico Fellini erscheinen. Nicolas Philibert hat seine Langzeitbeobachtung, die auf der diesjährigen Berlinale (für einen Dokumentarfilm ungewöhnlich genug) den Goldenen Bären erhalten hat, während der Pandemie gedreht. Auch die Frage der Impfung wird hier im Plenum diskutiert.
Regisseur Philibert schaut und hört einfach zu: voller Langmut, um dieses aus der Mode geratene Wort zu benutzen. Er macht seinen Film so, wie W.G. Sebald seine Bücher geschrieben hat: vorsichtig genaue und präzise, erstaunte und erschrockene, vom Befremden wie von Zuneigung getragene Schicksals-Betrachtungen über Menschen auf ihrer »Trauerlaufbahn«. Zu entdecken gibt es bei den Passagier-Patient*innen eine berührende, auch beunruhigende Art des Insistierens auf einem Thema, oft eigenwilligen Humor und schrägen Witz, eine Poesie für ihr anders eingestelltes Leben, ihre écriture automatique und Leuchtspur einer speziellen Intelligenz.
Manchmal nimmt die Kamera die Bewegungen des Flusses in den Blick – als würde sie im Licht, das Reflexe bildet, sich spiegelt, Schatten wirft auf die Wände des Schiffs und im Wasser sein geisterhaft blendendes Spiel treibt zwischen Schwinden und Erscheinen – ein Synonym für die Seelen derjenigen entdecken, die unter Verschluss sind und gleichwohl sich doch einen Spalt weit öffnen an diesem Zufluchtsort. Einem Zwischenraum, der nicht fest gegründet auf Erden steht. *****
»Auf der Adamant«, Regie: Nicolas Philibert, Frankreich / Japan 2022, 109 Min., Start: 14. September