Aus den Pariser Randbezirken: »Gagarin« von Fanny Liatard & Jérémy Trouilh startet in den Kinos.
1961 flog Juri Gagarin als erster Mensch ins All. Ein Held, nicht nur in Moskau und im Ostblock. In Frankreichs Hauptstadt hat der populäre Himmelsstürmer eine Wohnsiedlung eingeweiht, die seinen Namen trägt. Mit Schwarzweißbildern von dem Ereignis beginnt der Film, um dann farbig zu werden und in einer surreal wirkenden Gegenwart und im Zimmer von Yuri zu landen, dessen Phantasie sich aufs Kosmische richtet sowie auf Reparaturarbeiten an der Realität über den Dächern von Paris.
Das also ist geblieben von dem Traum der Zukunft, der Eroberung fremder Welten, dem Bau an der Moderne und hoffnungsfrohem Aufbruch, der in Amateuraufnahmen von damals in den Film montiert ist: ein urbanes Randgebiet, das steinerne Mahnmal sozialen Misslingens. Nur der Mond schaut sechzig Jahre später noch genauso auf die Welt.
Der 16-jährige Yuri (Alseni Bathily) lebt in der Cité Gagarine im Südosten von Paris und blickt auf die Slums der Metropole, die hier nichts von Olympia-Glanz und -Stolz hat und zeigt. Er ist noch nie rausgekommen aus seinem Ghetto außer mit Hilfe seines Teleskops und in seinen Träumen, in denen Raumschiffe schweben, Abenteuer und Außerirdische warten – Freiheit kennt viele Möglichkeiten. Aber die Träume Yuris, dessen Mutter sich mit ihrer neuen Familie davon macht und ihn zurücklässt, härten sich an der Wirklichkeit.
Als die maroden, den Umwelt- und Sicherheitsstandards nicht mehr entsprechenden Hochhäuser aus den frühen 1960er Jahren für den Abriss verbarrikadiert werden und die Leute aus der Nachbarschaft mehr und mehr ihre Wohnungen verlassen, um umquartiert zu werden, wollen Yuri und wenige Andere, darunter seine Roma-Freundin, nicht aufgeben. Sie fühlen sich als »Nachbarn des Mondes«.
Ihr Ehrgeiz ist es, kaputte Aufzüge in den Häusern wieder in Betrieb zu bringen, Fassaden anzustreichen, Schwimmbassins für die Kinder auf die Spielwiese zu stellen, Lampen und Leuchtkörper zu installieren, um Licht ins Dunkel der düster und trostlos gewordenen Gagarine zu bringen, Raum für bunten Hip-Hop und gemeinschaftliches Miteinander inmitten der Grauzone herzustellen und sie alle Zeugen einer Sonnenfinsternis werden zu lassen.
Während ringsum alles in Trümmer fällt, zugemauert und demontiert wird, bastelt sich Yuri eine irdische Raumstation – parallel dazu verschieben sich die Filmbilder vom Realen ins Imaginäre und erschaffen eine Art äußerer Innenwelt Yuris. In den Eingeweiden seines Wohnhauses auf der 7. Etage hat er sich ein Versteck konstruiert, wo er ein Gewächshaus für Pflanzen und Gemüse mit Belüftung, Bewässerung und Licht-Bestrahlung installiert und mit allem möglichen technischen Zubehör ausstaffiert, so dass er in dieser Kapsel unterwegs zu den Sternen zu sein scheint. Eine Zwischenstation nur. Denn der Winter kommt – und die Sprengung des Gebäudes. Yuri harrt aus in der Kälte.
»Gagarin« hat viel Gespür für das Niederdrückende und die Melancholie der Situation, die die Geschichte utopistisch auflädt und gewissermaßen ins Schwerelose hinein verwandelt. Als er mit seiner Freundin (Lyna Khoudri) einmal vom Dach aus ins lichtgesprenkelte Weite schaut, erinnert Yuri das an die »himmlischen Vorstädte«, und er erklärt, dass damit die Außenbezirke um die Sterne herum gemeint seien: »Sie leuchten weniger, aber ohne sie überleben die Sterne nicht.« Wir verstehen die Metapher. Schön wäre es, die Politik, die alte und die neue in Frankreich, aber nicht nur die Regierenden dort, würde auch verstehen – und handeln. ****
»Gagarin«, Regie: Fanny Liatard & Jérémy Trouilh, Frankreich 2020, 97 Min., Start: 15. August