Auf einem Wandgemälde betrachtet Wiebke Landau einen Pelikan. Das Muttertier reißt sich die Brust auf, um mit ihrem Blut die toten Jungen zu nähren und so wieder zum Leben zu erwecken. Die Pferdetrainerin auf eigenem Hof, wo sie unter anderem eine Reiterstaffel der Polizei ausbildet und die Tiere auf Einsätze etwa gegen gewalttätig-aggressive Demonstrationen vorbereitet, ist also gut im Deeskalieren von Situationen. Die von ihr adoptierte neunjährige Nikolina soll noch ein Schwesterchen bekommen. Gemeinsam holen Mutter und Tochter die fünfjährige Raya ab, wiederum aus einem bulgarischen Waisenhaus.
Die äußerlich elfenhafte Raya zeigt bald massive Verhaltensauffälligkeiten, bunkert Essen, wirft mit Dingen um sich, zerstört, beißt andere Kinder und veranstaltet mit ihnen Doktorspiele, vergeht sich an Lebendigem, legt Feuer, attackiert Mutter und Schwester, rastet unkontrolliert aus. Rayas »magische Phase« lässt sie eigene Schuld und Täterschaft auf eine unsichtbare Fantasiegestalt übertragen. Der Alltag wird zur Extrembelastung, das Haus mit Warn- und Signalhilfen aufgerüstet. Der Kinderhort schließt Raya aus. Wiebke gerät mit hinein in die soziale Isolation.
Ein Therapeut diagnostiziert eine schwerwiegende reaktive Bindungsstörung und Traumatisierung, nachdem Raya, als sie ganz klein war, tagelang neben ihrer toten Mutter verbracht hatte. Neurologische Untersuchungen und psychologische Tests folgen. Rayas emotionales Zentrum ist verkümmert. Ihre Psyche hat zum eigenen Schutz dicht gemacht. Sie kann keinerlei Empathie empfinden.
Wiebke, von Nina Hoss in der ihr eigenen verschlossenen und entschlossenen, forschend besonnenen Weise gespielt, jedoch will nicht aufgeben und versucht, Raya mit einer künstlich hervorgerufenen Babyphase gewissermaßen neu zu gebären und zu binden. Der Zusammenbruch kann nicht ausbleiben. Der kleinen Familie droht ihr Zerfall. Katrin Gebbe und ihren Darstellerinnen gelingt ein psychopathologisches Extrem-Drama, das sich bis an die Randzone der Geisterbeschwörung wagt, dort schürft, kratzt – und fündig wird.
»Pelikanblut«, Regie: Katrin Gebbe, D 2020, 125 Min., Start: 24. September 2020