Der Reporter bildete sich ein, sie käme mit dem Fahrrad, so wie sie als »Barbara« und als Laura in »Wolfsburg« – zwei der fünf Filme mit Christian Petzold – Fahrrad fährt, sich aufrecht hält und anstemmt gegen Widerstände, nicht nur der Witterung. Auch bildete er sich ein, sie könnte dieses Unergründliche, Unwirkliche haben, das aus ihren Figuren große Unbekannte macht. Natürlich passiert nichts davon. Fürs Fahrrad ist es an diesem frühen Apriltag immer noch zu kalt. Fürs Verschattete ist Nina Hoss zu geklärt.
Treffpunkt ist in der Nähe ihrer Wohnung zwischen Friedrichshain und Prenzlauer Berg im Bötzow-Viertel. Keine Umwege. Nina Hoss treibt keinen unnötigen Aufwand, jedenfalls nicht topografisch und gastronomisch. Der Italiener gefällt ihr, chic ist das Lokal nicht. Nina Hoss sucht kein must to go.
Ein rotes Auto liegt kopfüber, wie ein Käfer auf dem Rücken, auf einer sehr grünen Wiese. Vom Wrack eingeklemmt ein Mann in weißem Hemd, das keinen Makel aufweist. Eine Frau mit dunklen Haaren entfernt sich vom Unfallort und geht übers Gras davon. So wandeln Göttinnen über die Erde, so verlässt Medea den Tatort, sieht die Gestalt der Rache aus, die doch ihrer Verzweiflung nicht entfliehen kann. So kleidet sich Mythos in den Alltag deutscher Gegenwart. Da sind Laura in Wolfsburg, Leila in Stuttgart, Yella aus Wittenberge, Barbara in der Prignitz. Nina Hoss’ Bewegung bei Christian Petzold ist das Sich-Abwenden und Fortgehen, ihr Blick geradeaus (und nach innen) gerichtet. Ihre Miene trägt ein Wissen, das sie nicht mitteilt.
Selbstbeherrschung und Gefasstheit kommen einem bei ihr in den Sinn. Und Aufrichtigkeit. Viel eher als Glamour. »Sehr kollegial, ungeheuer fleißig, ohne Allüre. Sie hat Rückgrat.« Beschreibt ein gescheiter Kollege am Deutschen Theater Nina Hoss, die seit 1998 zum Ensemble gehört. Sie »ackere«, hat sie früher gesagt. Das »gehört zu meinen Anfängen« mit dem Impetus »alles richtig machen zu wollen«. »Ich gehe zur Arbeit«, sagt sie immer noch. Inzwischen meint der Arbeitsbegriff mehr, »sich in eine Situation des Risikos zu begeben«. Gewichte verlagern sich mit der Zeit. Ein schon für unsere Wahrnehmung sehr erfüllter Wunsch geht für sie dahin, »offener und freier zu werden, ohne gefällig zu sein«.
Pragmatische Sicht mag in der Familie geprägt worden sein, wo das Theater täglich Brot war und nicht weniger die politische Intervention. Elternerbe: väterlicherseits dank des 2003 gestorbenen ehemaligen Schweißers aus dem Revier, des Daimler-Betriebsratsvorsitzenden, Mitbegründers der Grünen und Entwicklungshilfe-Managers in Brasilien Willy Hoss; mütterlicherseits durch die Theaterleiterin Heidemarie Rohweder. Die Liebe des Elternhauses gibt Sicherheit mit, ein Leben lang: Urvertrauen und eine positive Grundhaltung. Kein Nährboden für Neurosen. »Der Schnittpunkt« der dunklen Figuren, besonders der auratischen Petzolds, mit ihr selbst sei »Misstrauen gegen Zugriff«. Ein Satz fällt mehrmals und meint auch ihre Haltung zu den Begehrlichkeiten des Starbetriebs: »Ich lass’ mich nicht gern vereinnahmen.«
Andere kümmern sich um Buchhaltung oder um eine Klasse lärmender Grundschüler. Nina Hoss »kümmert sich um die Figur, die ich spiele«. Für die Exkursionen in die Welten eines Dramas oder einer Kinogeschichte sammelt sie Mate-rial: Musik, Filme, Bilder, Bücher sind Reisegepäck: »Ich habe immer einen Koffer dabei, in den ich schön reinpacke und wieder aussortiere. Es gibt auch welche, die ihn plün-dern …« Für »Barbara« etwa, erinnert sie sich, habe sie viel Wolf Biermann – übrigens ein ehemaliger Freund der Familie Hoss – gehört: »dieser rasende Druck auf der Gitarre und die schöne Melodie darüber«.
HEDDA SCHILLERT
Die aktuelle Figur heißt Hedda Gabler. Ibsens Ehedrama inszeniert Stefan Pucher (in Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin) zur Eröffnung der Ruhrfestspiele. Hedda, die Generalstochter, die mit Pistolen hantiert, sich »müde getanzt« und mit Tesman den falschen Mann geheiratet hat, langweilt sich tödlich. Nina Hoss ist vier Wochen vor der Premiere noch lang’ nicht fertig mit der Person, hat »noch keine endgültige Entscheidung getroffen«. Ja, sie interessiere sich für diesen Menschen, der einem »wahnsinnig unsympathisch erscheint«. Hedda »schillere«. Aber in welchem Farbspektrum? »Monströs? – aber ich möchte es nicht pathologisch machen.« »Womöglich bleibt das Rätsel unaufgelöst. »Das muss man vielleicht auch lassen.« Ohnehin kommt es ihr auf »Spannungsverhältnisse« an. »Nichts ist klar und eindeutig. Ich muss analysieren, um es zu verstehen, dann kann ich Gegensätze aufeinander prallen lassen.«
Ibsens Nora in ihrer Bewegung und Befreiung könnte Nina Hoss näher sein. Heddas Wesen hat etwas Lethargisches, auch Vampirhaftes, indem sie den Männern etwas absaugt. »Dass man durch andere lebt, kann ich schon nachvollziehen. Auch wenn nicht ich das bin.« Indes: »Je ferner eine Figur, desto besser kann man sich hineinversetzen«. Sie spreche über ihre Rolle so, wundere ich mich, als ob es keine Regie gäbe. Nina Hoss schaut etwas überrascht: »Ich sehe es schon als Aufgabe des Schauspielers, autonom zu sein.« Und ergänzt: »Die Vorstellung, etwas machen zu müssen, das nicht mein Geschmack ist und ich nicht leiden kann, wäre ein Horror«.
Sie hat etwas Unnachgiebiges, Hartnäckiges in ihren Filmrollen. Eine Kühnheit im Schicklichen. In »Anonyma«, der Geschichte einer Frau in den Trümmern des kapitulierten und moralisch verwüsteten Berlin, ebenso wie bei Thomas Arslan in »Gold« (Kinostart im August) als Emily Meyer, einst Dienstmädchen in Chicago, nun Hasardeurin in einem Track deutscher Kerle, die Ende des 19. Jahrhunderts durch Kanada ziehen, um Gold zu schürfen. Einer nach dem anderen wird ausgezählt. Emily bleibt übrig. Sie macht nicht viele Worte. Verschlossen wie viele Hoss-Figuren. Und zu-packend. Reiten, Reiten, und der Mut wird nicht müde und die Sehnsucht ist groß, um Rilke abzuwandeln, dessen Lyrik ihr angemessen ist. In Rilkes Gedicht über die »Kurtisane« heißt es: »Venedigs Sonne wird in meinem Haar ein Gold bereiten: aller Alchemie erlauchten Ausgang.«
DIE BERGMAN-FRAUEN SIND IHR VORBILD
Doch braucht sie den Glorienschein des Blonden nicht. Als Yella und Laura und als Medea auf der Bühne trägt sie schwarzes Haar. Farbe und Frisur für eine aus dem Totenreich. Ohnehin hat sie zwei Gesichter: Ihr lustiges Gesicht kann fast clownesk (»meine letzte komische Rolle habe ich auf der Schauspielschule gespielt und bei der Regisseurin und Zürcher Schauspiel-Chefin Barbara Frey als Franziska in Lessings ›Minna‹«), das ernste eine tragische Maske sein. Die Ahnung des unantastbar Schönen und die konkrete Erscheinung samt ihrer Vernunft bringen Klischees und Kategorien in Unordnung. Auch das gab es schon einmal. Hemingway nannte Marlene »Kraut«.
Nina Hoss wurde zum Star ausgerufen, womöglich von Weltformat: Marlene, Hilde, Ute, Nina. Aber was heißt Welt? Amerika? Romy Schneider war immer besser bei Claude Sautet, Visconti und Chabrol als je in Hollywood. Die Filmgeschichte hat Nina Hoss gespeichert. Den Fernseh-Sonntagnachmittags-Film durfte sie zuhause sehen. Sonst blieb der Apparat für sie ausgeschaltet. Lektionen in klassischem Hollywood, mit Bogart, Clark Gable oder Jimmy Stewart, mit Bette Davis, Katharine Hepburn, der Dietrich, Ingrid Bergman. Am Restauranttisch sitzen wir unter einem Foto von Anna Magnani. Die gehört auch in die Reihe. Die Bergman-Frauen Ingrid Thulin und Liv Ullmann sind ihr Vorbild, auch Isabelle Huppert, ebenfalls jemand mit analytischem Intellekt. Prägungen, die Standards setzen und ein Niveau etablieren. »Darunter geht es nicht. Das ist man sich schuldig.« Vor jeder anderen rangiert: Romy Schneider. Allein, deren Credo »Ich kann alles auf der Leinwand, aber nichts im Leben«, will nicht recht passen für Nina Hoss, die eine Begabung zu haben scheint fürs Gelingen. Bewundert sie die radikale Selbstentblößung, die das Leben kostete? Ohne dass sie alles ganz zeigte, sei bei Romy die tiefe Verletzung zu spüren gewesen, die Schmerzzone, auch Kälte, auch das Sinnliche, Leichtfüßige. Und wäre sonst nichts, so doch dies: die Erkenntnis, »dass man sich nicht schonen kann. Künstler können sich nicht verstecken.«
Nina Hoss kommt als Schauspielerin aus der Ruhe. Minimalismus, der Aufmerksamkeit einfordert, Konzentration herstellt. Sie selbst stellt eine Verbindung zum Protestantismus her, zu charakteristischen deutschen Eigenschaften wie »sich Zusammennehmen, sich ins Leben zurückkämpfen« und zu spezifischen Eigenschaften des Preußischem und Berlinischen: »Es gibt Angriff und wenig Defensive«.
Man meint bei ihrem Spiel mythische Landschaft zu betreten: Landschaft mit Sphinx, Landschaft mit Medusa, Landschaft mit Sirenen. Wie soll das enden für die Männer? Für Iason, für Lövborg bei Ibsen, für den Architekten (André Hennicke) in Petzolds »Toter Mann«, für Benno Fürmann als Autohändler in Petzolds »Wolfsburg«. Man weiß es ja doch. »Und Knaben, Hoffnungen aus altem Hause, gehn wie Gift an meinem Mund zugrund.« Um nochmals das venezianische Rilke-Poem zu zitieren.
NICHT ALLES BEDIENEN
Als Edelhure Rosemarie Nitribitt begann ihre Karriere. Das war 1996, sie 21. Etwa noch eine Bernd-Eichinger-Blondine? Nein. Der Big Boss war für sie Wegbereiter und Freund, aber die Dietl-»Rossini«-Welt liegt ihr nicht. Ohnehin würde man Nina Hoss äußerlich eher den Hitchcock-Idolen zuordnen: Tippi Hedren oder Eva-Marie Saint – selbstbewusst bis in Minusgrade, tipptopp von Kopf bis Fuß, fast zwanghaft perfekt, dabei bedürftig des Schutzes. Porzellan mit einem Riss. Von ihren »Knacksdamen« sprach Marianne Hoppe, auch eine kühle, kluge Blonde, die wusste, dass in großen Höhen die Luft dünn wird.
Nina Hoss hat eine genaue Vorstellung von dem, was der Star-Status verlangt, wie man den Roten Teppich beschreitet. Sie fragte sich, was sie an Schauspielern beeindrucke: »Nicht zu viel vorkommen. Nicht zu viel erklären. Nicht alles bedienen. Nicht zu viel preisgeben.« Das Spiel spielen und die Spielregel kennen. Vielen Kollegen fehle die Spielanleitung. Wieder der Satz: »Ich lass’ mich nicht vereinnahmen. Man muss nichts müssen.« Außer das Beste für das jeweilige Projekt zu tun. Etwa als Medea im Wohnküchen-Kabuff, in der die Exotin (Asylantin, Sexarbeiterin …) eingepfercht und isoliert ist. Fast eine Kroetz-Heldin. Doch die Enge birst an ihrer Willenskraft. Sie ist die Herrin von Tschechows »Kirschgarten«, hat Frauen von Hauptmann und Schnitzler gespielt, Botho Strauß’ bundesrepublikanische Irrläuferin Lotte, die Buhlschaft im Salzburger »Jedermann«, die schöne Helena in »Faust II« …
1975 geboren in Stuttgart, gehört Nina Hoss zu den phänomenal begabten Ernst-Busch-Schauspielschul-Absolventen, die alles können, ohne dass das Versierte steril wirkt. Sie spricht von Präzision: »bei jedem Satz den Stein hochheben und schauen, was darunter liegt«. Und vom Ich-Erlebnis. »Sie helfen dir zur Selbstständigkeit. Du hast einen Anspruch, wenn du von der ›Busch‹ kommst. Das Emotionale haben sie nicht unbedingt gefördert. Wenn du es mitbringst, wird es dir nicht genommen. Gesucht wird es aber nicht.«
Nach dem Anfangserfolg als »Mädchen Rosemarie« verzichtet sie auf die fixe Karriere. Kein Illustrierten-Promi. Nina Hoss sieht sich als »Theatermensch«. Früh begegnete sie Einar Schleef: »für mich wie eine Eröffnung«. Die Arbeit mit ihm trage sie in sich, sie habe Kräfte gefordert und freigesetzt. Und die Sichtweise bestimmt, auch durch starke formale Setzung und zwingende Ästhetik. Die »Rahmung« ist nicht Dekor, sondern stiftet Sinn. Das erlebt Nina Hoss auch bei Bob Wilson, natürlich bei Petzold. Und bei Michael Thalheimer in Lessings »Emilia Galotti« als Gräfin Orsina, die in diesem kondensierten Theaterwelterfolg nicht nur die Frau mit der Waffe des Verstandes, sondern auch die offensiv erotische Frau ist, deren Küsse gefährlich und wirksamer sind als Gift.
Sie stand schon als Kind auf der Bühne. »Zeigelustig« sei sie, hat Nina Hoss mal gesagt. Es muss also wohl einen keuschen Exhibitionismus geben. Doch gilt: »Mein Hauptbeweggrund bin nicht ich. Ich will etwas herausfinden. Um in den besonderen Zustand auf der Bühne oder vor der Kamera zu kommen, muss ich mich vorbereiten. Und das im Spielmoment dann vergessen.« Das Ergebnis heißt »Magie«.
»Hedda Gabler«; Premiere der Ruhrfestspiele: 3. Mai, Termine: 4. bis 7. Mai 2013; www.ruhrfestspiele.de
Christian Petzolds »Barbara« und »Jerichow« sind auch als DVD erhältlich.