In seinen Erinnerungen »Zeitfäden« ergründet Peter Brook die Wurzeln des Kreativen. Er findet sie im ererbten Kampf »zwischen Energie, Impulsivität und Entschlusskraft einerseits und dem Bedürfnis nach Gleichgewicht und Ausgleich«. Aus der Balance dieser Elemente bezieht das universelle Theater des 1925 in London geborenen, seit acht Jahrzehnten wirkenden Brook seine Wahrhaftigkeit. Sperrbezirke kennt es nicht. Integriert sind Probenerleben, Zufälle, Alltagswahrnehmung, außereuropäische Literaturen, Ich und Welt und Wir.
»The Prisoner« (Text und Regie: Brook und Marie-Hélène Estienne) zeigt bei den Ruhrfestspielen den legendären Künstler als Beckett-Bewunderer und Kafka-Leser. Irgendwo sitzt ein Mann, Mavuso, allein vor einem Gefängnis, das eher das Verlies seines Inneren ist. In der theatralen Recherche zur Idee der Freiheit (koproduziert mit dem Théâtre des Bouffes du Nord Paris) bleibt offen, wer er ist, was sein Vergehen oder seine Schuld, ob er sich dort freiwillig oder erzwungen, als Strafe oder willentliche Sühne aufhält. Sucht er Erlösung und Vergebung?
Für Brook bedeutet die Einladung ins Ruhrgebiet auch eine Rückkehr, nachdem Gerard Mortier ihn 2004 zur Ruhrtriennale holte und auch die Ruhrfestspiele bereits eine seiner Produktionen im Programm hatten. Der neue Intendant Olaf Kröck in Recklinghausen legt, indem er diesem Zeugen und Heroen des Jahrhunderts eine Hommage ausrichtet, ein Bekenntnis zur Tradition ab.
Das Denken als körperlicher Vorgang
1981 hat die Fotografin Annie Leibovitz Peter Brook in seinem Pariser Theater porträtiert: als lehmfarbenen Beduinen der Bühne. Ein Nomade, der die Leere liebt – den Himmel über der Wüste. »Der leere Raum« heißt Brooks berühmte, viel zitierte Anleitung für das Theater von 1968. Ein Konzept, das jedoch nur in seiner Belebung funktioniert: Das Denken ist ein körperlicher Vorgang.
Brook – beeinflusst durch Shakespeare, Artaud, Brecht und Grotowski – hat Filme gedreht, Opern inszeniert, hat geschrieben, die Royal Shakespeare Company geleitet und eigene Gruppen gegründet. Früh wurde ihm die Notwendigkeit eines festen Ensembles bewusst, das – mit so unterschiedlichen Mitgliedern wie dem Deutschen David Bennent, dem Japaner Yoshi Oida, dem Amerikaner Bruce Myers – ein Instrument für Improvisation bildet. Fantasie entsteht nie nur intellektuell. Realismus oder Stilisierung sind nur künstliche Konventionen. Gedanken wie diese prägen Brook, seine Experimente und Forschungen: Erlerntes verlernen, immer wieder neu anfangen, den Ballast von Fertigkeiten abwerfen, auf Dekor und Effekt verzichten, sich mit vokaler Rhythmik, mit Laut, Tanz und Bewegung artikulieren und Sprache nur als ein Element unter anderen verstehen.
In seinem mobilen Welt-Theater liegt »hinter den Zeichen« die Natur des Menschen: wenn er den Kontinent Shakespeare und immer wieder »Hamlet« erkundete, »Carmens« Tragödie in einer Sand-Arena einrichtete, in Oliver Sacks’ neurologischen Fallstudien die Frage nach der Wahrnehmung von Realität und dem Unergründlichen des scheinbar normalen Alltags stellte oder das mythische »Mahabharata«, Indiens Nationalepos, der Bühne anverwandelte. Mit der puren Konzentration auf den Akteur und dem Reflektieren eigenen ursprünglichen Tuns: zu spielen und sich (Be-)Deutungsschwere zu entheben, hat Brook das Theater entscheidend geprägt. Das Fremde wird vertraut – und umgekehrt. Peter Brooks Kunst gelingt, wie ein offenes Geheimnis auszusehen.
9. bis 12. Mai 2019, Ruhrfestspiel-Haus Recklinghausen, Kleine Bühne.