Das Licht der Aufklärung geht nur kurz an im Parkett. Denn noch dunkelt es, noch ist Iphigenie in Aulis und nicht von der Göttin Artemis gerettet in einen anderen Zeitraum: nach Tauris. In Bochum wird Svetlana Belesova als Iphigenie zwar in sich gefasst – blutüberströmt – in den Tod gehen. Aber da ist kein Zweifel, dass dies nicht des Dramas weiser Schluss ist.
Vernichtung. Durch Konsum des Körpers, der Ware wird. Vernichtung durch den männlichen Blick, männliche Hybris, männliche Herrschaft sowie durch weiblich-mütterliches Dulden und Sich-Entmündigen- und Entsexualisieren(-Lassen). Davon zu erzählen, ist Elfriede Jelineks Geschäft, zumal in ihrem »Sportstück« über die Trias Sport – Krieg – Mann. Erzählt davon auch Euripides’ »Iphigenie«? Beide Texte werden bei Dušan David Pařízek montiert – in einen. Werden zu einer mit dem Saloppen kokettierenden Kriegserklärung, die nicht das Land der Griechen mit der Seele sucht, sondern »Schicksal, Leiden, Schmerzen« in den Hirnwindungen lokalisiert, wo biosoziale Debatten angezettelt werden.
Die Musen sprechen. Im Schauspielhaus Bochum machen sich Erato, Kalliope und Polyhymnia einen Sport daraus, den antiken Chor zu repräsentieren und zu persiflieren, Autorität zu verkörpern und zu brechen, sich in der griechischen Mythologie kess zu verhaspeln, uns in der Helden- und Götterkunde sagenhaft lexikalisch auf dem quivive zu halten und zudem den Körperkult und Triumph des Willens kräftig zu verhöhnen.
Hellas’ Heer wartet. Meeresstille und keine glückliche Fahrt. Der Kampf um Troja kann nicht beginnen. Iphigenie wird vom heimischen Argos fortgelockt nach Aulis. Aber sie soll nicht des Achills Braut werden, sondern Braut des Todes. Ihr Mädchenleben ist der Preis für die Möglichkeit zum Sieg. Das ist Politik – die Triebenergie zum Großen und zur Gewalt. Was tut da ein kleines Sterben! Opfer und Täter, Mutterrecht und Vaterrechthaberei und/oder umgekehrt. Jelinek, übernehmen Sie!
Geschlechterrollen ohne festen Umriss
Die Aufführung unternimmt eine Suchbewegung des Sich-Annäherns, Ausweichens und Entfernens, Auflösens und Befestigens gegenüber Text und Figur. Alle sechs bravourösen Darsteller/innen verdienen dafür das Goldene Sportabzeichen. Geschlechterrollen bleiben ohne festen Umriss. Die ‚Todsünde’ Familie verliert an eindeutiger Zuschreibung. Neue Kampflinien ziehen sich ein. Das Elternpaar Agamemnon und Klytaimnestra wird von einer ‚Persona’ (von Jele Brückner mit intensiver, inniger Leidenschaft) verkörpert, so dass die weiblich-männliche Spaltung zur Einheit und beim Streit um Staatsräson und Gewissen in die Ich-Krise geführt ist.
Achill liegt bei Anne Rietmeijer als muskelbepackter Rock’n’Roll-Rammler und »Adidas«-Champion mit sich selbst im Clinch, ohne dass es zur Vergröberung käme; es hat vielmehr – und viel mehr – Feinsinn. Belesova bringt Menelaos und seine Nichte Iphigenie zur Deckung. Konstantin Bühler, Lukas von der Lühe und der in seinem trockenen Humor knisternde Bernd Rademacher treten als Chorist/innen zum Hausfrauenreport an. In Bochum synthetisieren sich – intelligent verspielt und verspiegelt, transgendernd, abstrakt und satirisch komisch ausforschend – Körper, Texte, Konflikte und ihre emotionalen Haltungen. Vom Kampfplatz bis zum Sportplatz und zum Allgemeinplatz: Haltungsschäden.
Termine: 19., 21., 23., 26. und 28. April 2019