Zunächst ist die Bühne nichts als ein leerer Raum. Dann kommen vier Tänzerinnen und nehmen sie auf ungewohnte Weise in Besitz. Ihre Schritte und Bewegungen wirken auf den ersten Blick nicht sonderlich kunstvoll. Sie gehen einfach einer Arbeit nach. Mal markieren sie mit farbigem Klebeband Bereiche auf dem Bühnenboden. Mal tragen sie Leitern hin und her und erklimmen sie. Dann bringen sie Lampen auf die Bühne, hängen sie auf und holen sie wieder herunter.
Das alles sind ganz alltägliche Arbeitsvorgänge. Sie gehören zu jeder Theatervorstellung. Nur finden sie in der Regel vor und nach der Aufführung statt, so dass das Publikum nichts von ihnen mitbekommt. In »Everything but Solo«, einer Performance des Kollektivs Swoosh Lieu, werden diese sonst unsichtbaren Arbeitsprozesse selbst zu Kunst. Je länger man den vier Performerinnen zusieht, desto mehr nehmen einen ihre scheinbar so simplen Bewegungen und Gesten gefangen. Ihre natürliche Eleganz offenbart die Schönheit, die im Selbstverständlichen und Alltäglichen liegen kann. Auch physische Arbeit ist letzten Endes eine Kunst, und Kunst ist immer auch physische Arbeit.
Mit einer Aufführung von »Everything but Solo« wird die diesjährige Ausgabe des Favoriten Festivals am 10. September im Dortmunder Depot eröffnet. Auf der einen Seite fällt die Produktion komplett aus dem Rahmen des Festivals, das alle zwei Jahre NRWs freier Theaterszene eine Bühne gibt. Denn sie stammt aus Frankfurt und hatte ihre Premiere schon im Herbst 2012. Auf der anderen Seite kann man sich für das zum zweiten Mal von Fanti Baum und Olivia Ebert geleitete Event kaum eine passendere Eröffnung vorstellen. Schließlich verfolgen die Favoriten in diesem Jahr konsequent einen thematischen Ansatz.
Unter der Überschrift »While We Are Working« haben die beiden Kuratorinnen 20 Arbeiten versammelt, die auf unterschiedlichste Weise um das Thema Arbeit kreisen. Dabei kommen, wie Olivia Ebert erzählt, zwei Fragen eine besondere Bedeutung zu: »Was für einen Stellenwert hat Arbeit in unserer Gesellschaft? Und wer oder was fällt durch das Raster?« Also haben die Festivalleiterinnen vor allem Produktionen eingeladen, die einen etwas anderen, einen verschobenen Blick auf Arbeit werfen. Projekte wie »Aufstand aus der Küche: Teil II_VerSammlung_DO«, eine von Lucie Ortmann, Katrin Ribbe und Mareike Hantschel entworfene Langzeit-Performance, oder die Tanzperformance »Kırkpınar«, in der sich caner teker der Rituale des türkischen Öl-Wrestlings annimmt, sollen dem Publikum feministische und (post-)migrantische Perspektiven eröffnen. Sie definieren Arbeit anders und lenken den Blick auf verkrustete Strukturen, die das Festival mit den eingeladenen Künstler*innen aufbrechen will. Alle Produktionen, sagt Fanti Baum, zeichneten sich »durch eine Widerständigkeit gegen Leistung und Besitz aus.«
Die Entscheidung für einen thematischen Schwerpunkt war schon bald nach dem Ende der »Favoriten 2018« gefallen. Das Festival sollte noch einmal anders gedacht und und der Fokus auf Fragen gelegt werden, die für Baum »die Freie Szene immanent betreffen«. Ein Aspekt, der durch Corona nun eine besondere Bedeutung bekommt. Natürlich spielen Fragen danach, wie und wo sie arbeiten können, für Künstler*innen der freien Szene eine essentielle Rolle. Von Mitte März bis zum Ende der Spielzeit im Sommer gab es für freie Theatermacher*innen praktisch keine Möglichkeiten zu arbeiten. Premieren wurden verschoben, Gastspiele und Festivalauftritte abgesagt.
Natürlich standen auch Fanti Baum und Olivia Ebert vor der Frage, was passieren würde, wenn das Festival aufgrund von Corona abgesagt werden muss. So berichtet Fanti Baum: »Letztendlich haben sich alle darauf eingelassen, mit uns über Adaptionen nachzudenken, weil nur so künstlerisches Arbeiten auf der Bühne wieder möglich wurde.« So senden Baum und Ebert nun ein starkes Zeichen in eine immer noch extrem verunsicherte Szene. Zum anderen geben sie den Künstler*innen die so lange vermisste Möglichkeit, ihre Arbeit wieder auf der Bühne zu zeigen. Sogar in der Form, so Olivia Ebert, »wie sie entstanden sind, da die Künstler*innen als feste Gruppen auf der Bühne in Dortmund keine Abstandsregeln einhalten müssen.«
Um dem Publikum ein Gefühl von Sicherheit zu geben, haben die Festivalleiterinnen beschlossen, etwa die Hälfte der normalerweise zur Verfügung stehenden Plätze zu blocken. Das heißt, es wird je nach Bühnensituation vor etwa 65 oder etwa 80 Zuschauer*innen gespielt. Zum Ausgleich werden bis auf »WHY NOT? Reality Show«, einer technisch aufwendigen Reflexion über die Arbeits- wie die Freiräume, die durch technische Gadgets entstehen, alle eingeladenen Produktionen jeweils zweimal gezeigt.
Neben eher klassischen Produktionen wie »Aus dem Innenleben eines Staubsaugerbeutels«, einer poetischen Reflexion über die Vergänglichkeit materieller Dinge und den Zauber von Kitsch, und Antj Velsingers multimedialer Performance »dreams in a cloudy space«, in der eine 75-jährige und eine 35-jährige Tänzerin Bilder vom Leben im Alter erschaffen, haben Baum und Ebert im Programm auch ganz andere Ansätze geschaffen – um die Begegnung zwischen Zuschauer*innen und Künstler*innen noch einmal anders zu begreifen. Dadurch seien offenere, auf Begegnungen setzende Arbeiten entstanden, darunter »Aufstand aus der Küche« oder »Schlaflabor« von der Gruppe Transnationales Ensemble Labsa.
10. bis 20. September, verschiedene Orte in Dortmund (Festivalzentrum im Depot)