Vor dem Theater ist auf dem Theater. Hinter den Kulissen ist vor dem Prospekt. Festspielgäste, Premierenbesucher stehen herum mit Champagner und Programmheften in der Hand; Naschwerk – das marzipansüße, nougatklebrige im Namen des Komponisten – macht die Runde. Die Kunst geht nicht nach Brot, sondern nach Bedeutung derer, die sie genießen wollen. »Geld regelt alles«, weiß nicht nur Bartolo. Das war so und bleibt so. Bei Klaus Weise in Bonn müssen es partout die frühen sechziger Jahre sein, vor kurzem in seiner Ibsen»Nora« an den Godesberger Kammerspielen, jetzt in Mozarts »Nozze di Figaro« im Opernhaus. Die Damen tragen toupierte Frisuren, Brokat und Nerz und sehen überhaupt alle aus wie Magda Schneider, obwohl sich damals schon die halbe Welt in deren Tochter Romy verguckt hatte. So wie sich in Mozarts und Da Pontes »Hochzeit« Figaro und überhaupt alle nicht in Marcellina (die sich gnädigerweise als Figaros Mutter entpuppt und damit aus dem erotischen Spiel ist), sondern in Susanna verlieben. Auch der Graf. Das ist dann die eigentliche Geschichte.
In Bonn werden viele Geschichten erzählt, aber keine richtig, keine gut und keine glaubhaft. Die Rahmenhandlung hat sich gleich wieder erledigt (außer wenn der Chor auftritt und die Protagonisten begafft), wirkt sich nicht aus auf die Innerwelt der Handelnden und deren Verhalten und wird erwartungsgemäß nur noch am Ende bemüht, denn ein Kreisschluss macht sich immer hübsch. Eine den Boden scheuernde Putzfrau setzt im Finale zum Kehraus an, obschon die Inszenierung noch nach ganz anderen Aufräumaktionen verlangte. Alles durcheinander. Große Konfusion, zeitlich, ästhetisch und stilistisch, im sozialen Gefüge und im Gefühlshaushalt. Das Rokoko schaut in Porträt-Miniaturen herab aufs Geschehen; enorme Papp-Putten bewachen des Grafen Almaviva Haus; den barocken Vanitas-Gedanken verkörpern auf Simsen zwei halb zum Skelett entleibte Figurinen; im dritten Akt gerät ein üppiges Stillleben-Dekor (Bühne Martin Kukulies) außer Fasson, so dass die Früchte der Natur jeder Ordnung spotten. Nicht anders – will die Aufführung demonstrieren – geht es auch mit Herz und Seele nebst den minderen Organen des Mozart-Personals an diesem tollen Tag zu. Aber die Botschaft kommt nicht an, wenn sie bloß mittels einer die Moden plündernden Kostüm-Orgie (Fred Fenner) transportiert wird, deren Höhepunkt die weiße Disco-Uniform des ölig gestriegelten Grafen darstellt, sowie mittels alberner und plumper Attribute wie Walkman und Schlagbohrer oder einem patroullierenden Sicherheitsdienst mit Wachhunden. Wenn sie nicht auch und vor allem in der Psyche der Figuren Widerhall findet. Außer Susanna (Anna Virovlansky) in ihrer Frische, Lebhaftigkeit und unverstellten Einfachheit bringt niemand auf der Bühne emotionale Tiefe und charakterliche Eigenart auf.
Wobei die stolzierende Äußerlichkeit der Solisten umso bedauerlicher ist, als sie sängerisch Besseres zu leisten vermögen. Das Manko betrifft ebenso den ohne jeden Charme und luftige Aura auskommenden Cherubino (Susanne Blattert) wie die (stimmlich etwas geschärfte) eckig agierende Gräfin der Irina Oknina, die für ihre Leidenskraft und Leidenschaft nur outrierte Gesten und konventionell ringende Hände aufbringt (selten habe ich das »Dove sono i bei momenti« so empfindungsfremd gehört), sowie auch die Herren Figaro und Almaviva (Martin Tzonev, Aris Argiris). Gegenüber der instinktunsicheren Regie behauptet sich desto erfreulicher das Beethoven Orchester unter Erich Wächter, das Mozart vital, subtil und fein strukturiert spielte. Im Vergleich zur gewissermaßen offiziellen Mozart-Hommage des »Figaro« beim Salzburger Sommer unter Claus Guths Regie, wo trotz eines vier Akte lang aufdringlich umherschwirrenden Cupido-Tänzers eine dramatische Gespanntheit, neurotische Verspannung und zwingende Notwendigkeit herrschte, bleibt in Bonn alles Behauptung. Ohne Stringenz und Konsequenz: ob sich Cherubino die Pistole an den Kopf setzt oder man mal eben aus der Rolle fällt, wie der Graf, der nach der Pause vor den Vorhang tritt und privat wird. Mozart flach gelegt. Es ist halt nur ein bunter Abend geworden. So etwas gab es in den sechziger Jahren ja öfter.