Zu Beginn scheint alles ganz einfach zu sein. Ich komme mit vier weiteren Zuschauerinnen und Zuschauern in einen kleinen Vorraum. Dort erwartet uns in Gestalt der Performerin Clara Gohmert schon »Anna Kpok«, unser Avatar für das gleich beginnende Live-Jump’n’Run-Adventure »realReality«. Aber erst einmal heißt es, die fünf Befehlspaare »Start / Stop«, »Rechts / Links«, »Ducken / Springen«, »Zoom / Einsammeln« und »Benutzen / Inventar« untereinander zu verteilen. Außerdem müssen wir gemeinsam aus verschiedenen »Anna Kpok«-Charakteren einen für unseren Avatar aussuchen. Und schon kann das Spiel beginnen. Ein kurzer Image-Film des »realReality«-Konzerns informiert uns darüber, dass sich die Situation auf der Erde in Folge verschiedener Konflikte und Katastrophen weiter verschärft hat. Wohnraum in den Metropolen ist knapp, Sicherheit zum Luxusgut geworden. Wer nicht in Chaos und Gewalt versinken will, dem bietet »realReality« mit seinen vollkommen vernetzten Smart-Homes den perfekten Ausweg und verlangt dafür nicht einmal Geld. Es reicht, dem Konzern seine gesamten Daten zu überlassen.
Schon nach wenigen Augenblicken im Bühnenraum, den das dreiköpfige Bühnenbild-Team aus Kathrin Ebmeier, Birk-André Hildebrandt und Anna-Lisa Högler in eine futuristische Wohn- und Wohlfühloase verwandelt hat, verfliegt die Illusion der Einfachheit. »realReality« funktioniert zwar wie ein Jump’n’Run-Spiel, in das einige Elemente aus Point-and-Click-Adventures eingeflossen sind. Aber ich spiele es eben nicht alleine. Mir steht nur ein Befehlspaar, »Zoom / Einsammeln«, zur Verfügung; also muss jeder Spielzug erst einmal in der Gruppe koordiniert werden. Natürlich geht dabei einiges durcheinander. Die eine ruft im Eifer des Gefechts ihren Befehl gleich zweimal, der andere verwechselt mal eben »Rechts« und »Links«. Schon steht unser Avatar, in Wirklichkeit natürlich die Schauspielerin Clara Gohmert, vor einer Wand und kommt nicht weiter.
Eine ganz eigene Bühnen-Welt
Monate später, die Gaming-Performance »realReality« hatte im September 2018 im Ringlokschuppen Ruhr ihre Premiere und war seither auch im Schauspiel Dortmund und in der Schaubude in Berlin zu Gast, bekennt Clara Gohmert im Gespräch, dass ihr solche Situationen durchaus Vergnügen bereitet haben. »Es war ein Spaß zu erleben, wie ganz unterschiedliche Gruppen gespielt und reagiert haben.« Damit sind wir gleich mitten in der ganz eigenen (Bühnen-)Welt des 2009 in Bochum gegründeten Kollektivs Anna Kpok. Kristin Naujokat, die bei »realReality« für Game-Design und Dramaturgie zuständig war, erzählt über die Anfänge der Gruppe: »Wir haben immer mit Formaten herumprobiert, bei denen es zu einem gemeinsamen Erlebnis kommt und es nicht mehr so leicht zu sagen ist, wer eigentlich die Produzentin des Abends ist.« Bei einer Gaming-Performance wird die Frage nach dem Produzenten des Abends tatsächlich zu einer Frage der Perspektive. Natürlich sind Kristin Naujokat und die anderen ›Annas‹, wie sich die wechselnden Mitglieder des Kollektivs selbst nennen, die Urheber des Spiels. Aber in dem Moment, in dem die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht mitspielen würden, gäbe es, wie Naujokat sagt, »nichts, kein Theater, keine Performance.«

Durch die Spielsituation, in der die Spielerinnen und Spieler eigenverantwortlich Entscheidungen treffen und damit den Verlauf des Spiels bestimmen, werden die (Macht)Verhältnisse zwischen den Machern und dem Publikum neugeordnet. Clara Gohmert hat natürlich für uns, meine vier Mitstreiter und mich, gespielt. Aber während wir sie mit unseren Befehlen lenken, spielen wir zugleich für sie. Die Performerin ist im Verlauf des Spiels eben nicht nur Avatar, sondern auch Beobachter, die die Dynamik innerhalb der Gruppe sehr genau wahrnimmt und mit dem spielt, was wir ihr offenbaren. Im Lauf der Gaming-Performance entsteht eine komplexe, von wechselseitigen Abhängigkeiten geprägte Gemeinschaft. Dabei gehört es dazu, dass die Spielerinnen und Spieler gelegentlich vergessen, dass ihr Avatar ein Mensch und keine Computerspiel-Figur ist. Im nächsten Augenblick, wenn Anna beispielsweise an die Grenzen ihrer Möglichkeiten kommt oder einen besonders fordernden Befehl ausführen soll, kann sich das wieder ändern. Aber auch für Clara Gohmert konnten sich im Lauf der Performance die Grenzen verwischen: »Wenn das Spiel derart in einen Fluss gerät, denke ich nicht mehr über die Situation nach. Das sind die Momente, in denen ich mich am Ehesten vergesse.«
Die Spielsituation kann die Wirklichkeit okkupieren und eine neue Realität erschaffen. Darin liegt der Reiz von Formaten, wie sie Anna Kpok entwickelt. In »Anna Kpok und der letzte Zombie«, einer 2013 entstandenen und 2014 gleich zweimal überarbeiteten Gaming Performance, waren die Möglichkeiten des Publikums noch begrenzt. Der lineare Ablauf des Spiels, man lenkte den Avatar durch verschiedene Situationen und Szenarien, um schließlich auf einen Endgegner zu treffen, bediente klassische Spielmuster. Am Ende gab es einen Gewinner, oder es hieß ›Game Over‹. In »realReality« hat die Narration ein stärkeres Gewicht bekommen. Es gibt nicht mehr den einen Weg, der an ein Ziel führt, sondern verschiedene Handlungsmöglichkeiten, die zu unterschiedlichen Enden führen. So gewinnen die Spielerinnen und Spieler eine größere Autonomie. Gegenwärtig arbeitet das Kollektiv an einer neuen Gaming-Performance, die sich noch weiter von den Strukturen typischer Jump’n’Run-Adventures löst. In »Shellgame«, einem von einer Erzählung Philip K. Dick’ inspirierten Abenteuer, werden etwa 30 Spielerinnen und Spieler durch ihre Entscheidungen eine Science-Fiction-Welt erschaffen und vielleicht auch wieder zerstören. Das Spiel wird zu einer Wirklichkeitssimulation, die einen absorbiert und zugleich soziale wie politische Dynamiken offenlegt.