kultur.west: Herr Deeg, welche Rolle spielt Spaß in der Kulturvermittlung?
DEEG: Spaß wird – insbesondere in Deutschland – immer gleichgesetzt mit Unseriösität und Trivialisierung, was natürlich Unsinn ist. Gerade das Spiel ist eines der komplexesten Systeme und das genaue Gegenteil von Verflachung. Es gibt kein Gesetz auf der Welt, dass besagt, dass wir einem jungen Menschen spielerisch Dinge vermitteln und wenn er dann erwachsen ist, muss er aufhören, zu spielen. Spiel heißt ja auch einfach, Dinge neu zu sehen – und darum geht es im Kern ja im Kultursektor.
kultur.west: Was ist eigentlich Gamification genau und was kann sie im Kulturbereich bringen?
DEEG: In der reinen Gamification geht es darum, dass wir real existierende Prozesse aus dem Kulturbereich nehmen, beispielsweise einen Museumsbesuch, eine Führung oder einen Theaterbesuch und versuchen, durch Spielelemente das Erlebnis und den Erfahrungsraum zu erweitern und noch menschlicher zu gestalten. Daneben gibt es weitere Bereiche, wie etwa die sogenannte »Playful Participation«.
kultur.west: Haben sie ein aktuelles Beispiel?
DEEG: Ich habe mit der Volkshochschule in Neuss im Rahmen von »Kultur macht stark« das Projekt »The Shakespeare Game« realisiert. Da ging es darum, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund dazu gebracht werden sollen, sich mit Shakespeare auseinanderzusetzen. Die Jugendlichen haben sich daraufhin die Story ausgedacht, dass in der Bibliothek die Bücher aus dem Regal fallen, die Figuren daraus hervor kommen und ihrem Ärger über den Autor Luft machen, weil sie keine Lust mehr haben, alle sterben zu müssen. Daraufhin beschließen sie, Shakespeare zu suchen und zur Rede zu stellen. Diesen Plot haben sie dann in einem »Localbase Game« umgesetzt. Das heißt: Die Spieler haben mit einer App bestimmte Orte in der Stadt aufgesucht, wo sie dann Rätsel lösen mussten oder Fragen beantworteten.
kultur.west: Hat das Projekt denn dazu geführt, dass sich die Jugendlichen tatsächlich weiter mit Shakespeare beschäftigen?
DEEG: Für die Teilnehmer war es wichtig, dass sie ihren eigenen Zugang zum Thema finden konnten. Was Spielmodelle dabei leisten können ist, dass ich aus den Erfahrungen anderer, also Shakespeare, meine eigenen machen kann. Ich hätte mir im Anschluss natürlich weitere Aktivitäten und die Einbindung in ein langfristiges Konzept gewünscht, aber da sind die Kulturinstitutionen oft noch nicht so weit.

kultur.west: Und wie hilft die Universalität des Spiels den Kulturinstitutionen?
DEEG: Nehmen wir eine Führung im Museum. Was passiert, wenn wir das Motivationsportfolio, wie wir es aus dem Spiel kennen, zugrunde legen? Motivation kann sein: Ich möchte etwas mit anderen zusammen tun, ich möchte Teil von etwas Größerem sein, ich möchte mich verbessern, ich möchte meine Neugierde befriedigen, ich möchte überrascht werden, ich suche den Wettbewerb. Das sind Muster, die man alle sehr gut beim Spielen beobachten kann und aus denen sich jeder ein individuelles Motivationsportfolio zusammenstellt. Wenn wir uns daraufhin die bestehenden Kulturvermittlungsangebote anschauen, stellen wir fest, dass viele von diesen Punkten gar nicht getriggert werden.
kultur.west: Was ist denn das Spezielle an Spielmodellen oder Spielen überhaupt – was macht sie interessant?
DEEG: Wenn wir das Spiel als Kunstform begreifen, dann ist es eine, die sich tatsächlich erst in der Anwendung realisiert. Teilweise finden Sie das auch schon in der Medien-Kunst, aber nicht in der Konsequenz eines Videospiels. Das bedeutet auch, dass dem Spiel Mechanismen zugrunde liegen, die den Spieler dazu bringen müssen, das Spiel aus eigener Motivation tatsächlich zu spielen und zwar bis zum Ende.
kultur.west: Könnten diese Mechanismen also den Besucher eines Museums dazu bringen, sich die gesamte Ausstellung anzuschauen und nicht nach der Hälfte das Interesse zu verlieren?
DEEG: Ja, ganz genau. Exakt um diese Effekte geht es bei der Gamification im Kultursektor. Wir müssen alles, was wir im Museum haben, noch einmal überdenken und überlegen, wie können Spielmechaniken dazu führen, nicht nur, dass Besucher sich eine Ausstellung bis zum Ende anschauen. Sondern dass sich auch die Menschen, die noch nicht ins Museum gehen, für die eine oder andere Ausstellung interessieren.
kultur.west: Es geht also um neue Zielgruppen?
DEEG: Mit Zielgruppen versucht man Stereotypen zu erzeugen. Eigentlich müsste man sich aber den einzelnen Menschen anschauen. Die Zielgruppe versucht den individuellen Menschen in ein Schema zu pressen. Das funktioniert aber nur begrenzt. Es fehlt der Blick auf die Motivation des einzelnen, sich mit etwas zu beschäftigen. Das Spiel ist da universeller, auch unabhängig von Kulturräumen zum Beispiel. Ich kann mit jedem Menschen auf der Welt spielen, völlig unabhängig von seinem kulturellem Hintergrund, seinem Geschlecht oder seiner Bildung.
Der 45-jährige Christoph Deeg studierte in Leipzig Jazz-Schlagzeug, leitete einen Plattenladen, betreute bei »Disney« den Aufbau der Computerspiel-Sparte und arbeitet heute als Experte für »Gamification« im Kulturbereich. In NRW setzte er das Konzept »Lernort Bibliothek« um. Zudem hilft er weltweit, Spielmechanismen in die Kulturvermittlung zu integrieren – etwa durch Projekte mit dem Goethe-Institut.