Shakespeares 150. Sonett beginnt mit der fragenden Zeile »O from what power hast thou this powerful might?« (Sag, welche Macht gab dir die Allgewalt…). Was macht diesen Richard III. unwiderstehlich, dass ihm die fatale Gesetzmäßigkeit und Gewissenlosigkeit des Mordens, Wieder- und Weiter-Mordens, Kopf-Verdrehens, Lügens, Betrügens, Heuchelns gelingt? Er ist ein Schrecknis und Schandmal. Hier dürfte das Wort des Hans Mayer vom »Monstrum als Ernstfall der Humanität«, das er auf Shakespeares Shylock angewandt hat, an seine Grenzen stoßen.
Ist Richard der »pathologische Narzisst« (Stephen Greenblatt) und in die Negation versetzte Don Giovanni, der für die Gattung Frau bloß Verachtung übrig hat? Bei ihm greift die Überlegung, dass Intelligenz schön und Erfolg beliebt macht, dass Macht erotisch ist und Esprit verführt, nur gegenüber sich selbst: Denn Richard Glosters größte Befähigung ist die Selbstreflexion, weshalb ein fünfflügeliger Spiegel auf der von Etienne Pluss schräg zugeschnittenen Bühne des Düsseldorfer Schauspielhauses präsidiert, vor dem sich Richard als Schizo-Tänzer multipliziert. Wer bin ich und wenn ja, wie viele?
Was ist der Wesenskern dieses Un-Menschen, der in der Natur ist, so sehr er auch gegen die Natur verstößt? Hilft (die oftmals unterschätzte) psychologische Herleitung und Erkenntnis, oder wächst die Gestalt darüber hinaus und ist Phänomen?
Wie der Elefantenmensch in David Lynchs Film hält er zunächst sein Haupt bedeckt, bleibt im Halbschatten ungesehen und steigt in steile Schuh-Hufe. Nein, das ist keine Maskerade, auch keine Maske, die zwischen den, der spielt, und den, den es zu verkörpern gilt, eine Membran zieht, und damit auch dem Betrachter Abstand erlaubt. Wenn sich André Kaczmarczyk als Richard Gloster enthüllt, ist er der totale Fremdkörper, hochbeinig, bandagiert, entstellt und – wäre dies kein Widerspruch – in individuelle Anonymität verschoben. Nichts lässt hinter dem gespannten und verknoteten Netz mit der geplätteten Nase, der aufgestülpten Glatze, dem gepressten Mund das Ebenbild des Schauspieler-Interpreten erkennen. Nicht einmal die Fratze dessen, der er in Wahrheit ist. Es ist einfach ein Anderer. Oder: das Andere. Und seine Welt eine betongraue Gefängniswelt, veredelt durch Marmorwände mit Portalen eines Mausoleums.
Lust an der Verstellung
Unter der Regie-Hand von Evgeny Titovs radikal eingestrichener Fassung (nach Thomas Braschs herrlicher Übersetzung) ist »Richard III.« ein reines Konversationsstück, ein einziger Hass- und Klagegesang, und nach innen verlegtes Monodrama des solipsistischen Richard. Die Männerfiguren sind eliminiert, bis auf eine halbe Leiche auf dem Sterbelager, bis auf zwei Prinzen-Knaben und bis auf Glosters Bruder, der kurz auf einem Monitor erscheint. Bürgergespräche, Mörderszenen, die Ränke, der Aufriss der Komplizen, Mittäter, Gegner – alles fort. Richard, der Sohn, der Mann, der Werbende, ist allein unter Frauen.
Mit Lust an der Verstellung und beinahe grazil in der Plumpheit betreibt er sein Gaukelspiel, kann flehen, flennen, kriechen, schmeicheln, schäkern, scharwenzeln, lauern, ist quick bei seinen Geschäften, sein eigener Schattenkämpfer und Entertainer, der seine Charakter-Facetten brillant schleift und sich sogar schon mal höhnend in einen Trauerflor drapiert.
Evgeny Titov inszeniert in üppig historischen Pracht-Roben (Esther Bialas) und mit elektronischem Brimborium (Musik: Moritz Wallmüller) Attraktionen des Affekts. Für Opern-Diven und elisabethanische Troerinnen: die furienhafte Lady Anne (Claudia Hübbecker), die Königsmutter (Manuela Alphons) in ihrem Schmerzens-Pomp, die vornehme Königin Margaret (Friederike Wagner), die mit knapper Geste ihr Temperament durch die hohe Kunst der Dressur lenkt; Glosters Handlangerin Hastings (Blanka Winkler), die mit ihm in den Todesclinch geht; und die wie eine Hollywood-Ikone kostbare Königin Elisabeth (Judith Rosmair) als rabiate Visionärin ihrer Qual. In der zentralen Begegnung zwischen Elisabeth und Richard wird er zum Apostel und Propheten einer möglichen Zukunfts-Zeitenwende: Kurz hebt sich der Vorhang über eine verlorene Seele, und wir erahnen den Menschen im goldglänzenden Ungeheuer.
»Ich hasse, der ich bin«
Aber dann ist alles wieder Wahn seines Kopfs: wie ihn die weibliche Meute blutig absticht und abwürgt; wie er vor der grünstichigen Bildschirm-Installation eines Orwell’schen oder Putin-Überwachungsstaates sitzt; wie sich die Särge addieren zu zwölf an der Zahl und den Toten-Anger bilden, auf dem er für einen Moment behaupten kann, was Elias Canetti den Triumph des Überlebenden auf dem Schlachtfeld nennt. Dieser Triumph aber enthält die Wahrheit größter Einsamkeit und Leere. »Ich liebe, der ich bin. – Ich hasse, der ich bin.« Das ist Richards verzweifelter Katechismus. »Ich bin, der ich bin«, so lautet wiederum die Formel des alttestamentarischen Gottes Jahwe. Auch einer, der sich aus sich selbst erklärt.
Haben wir diesen Richard nach 110 Minuten ergründet? Er, der Nicht-Angenommene schlechthin, beschädigt und zu lieben unfähig durch die vergiftete Mutter-Sohn-Beziehung. André Kaczmarczyk, der mit Titov bereits Shakespeares anderen Königsmörder, Macbeth, gespielt hat, indem er das Unschulds-Nimmerland Kindheit suchte, bleibt am Ende – kaputt und versehrt – allein mit sich. Die Hölle, das sind nicht die Anderen, die bin ich selbst.
Düsseldorfer Schauspielhaus, nächste Vorstellungen: 7. und 10. September und
1., 6., 14. und 16. Oktober