Wie eine Blume – sagen wir, eine Narzisse, nur viel komplizierter gebaut – entfaltet sich dieser fast dreistündige Abend. Häutchen für Häutchen, Hülle um Hülle blättern ab, hübsch anzusehen und fein gestaltet, bis die Kapsel, die die Blüte enthält, plötzlich aufspringt und etwas selten Kostbares zeigt, ihr innerstes Wesen.
Virginia Woolfs Roman »Orlando« von 1928 ist ein Schlüsselwerk der Moderne – jede Bearbeitung für den Film oder die Bühne ein tollkühnes Unterfangen. Dass es sich nicht um einen historischen und phantastischen Roman handelt, sondern dass Orlandos Zeit- und Lebensreise durch Woolfs England und durch Woolf selbst hindurch führt, verdeckt die Inszenierung im Düsseldorfer Schauspielhaus nicht. Sie beginnt mit der gesungenen Frage »What is life?« von Amy Fregas eiskristallzarter Stimme zur Live-Musik von Matts Johan Leenders.
Spiegel natürlich, Masken, Spielmaterial zur Verwandlung und eine Black-Box-Bühne mit Spiegelgrund (Ansgar Prüwer), auf deren Seiten die Requisiten des Abends unter schwarzen Tüchern auf ihren Einsatz warten und die Omnipräsenz der Theatermittel bezeugen. Mag manches auch schelmisch aussehen, nichts ist naiv gemeint, nichts dem Zufall überlassen.
Der anmutige Jüngling Orlando steht im Dienst von Elisabeth I., die sich ihn einverleibt, verliebt sich unglücklich in die russische Fürstin Sascha, wird umworben und Diplomat in Konstantinopel, fällt in tiefen Schlaf und erwacht aus der Trance verwandelt: Aus ‚er’ ist ‚sie’ geworden. Orlando denkt, fühlt, dichtet, liebt, verheiratet sich und wird Mutter, zieht sich zurück, gastiert in der Welt und sucht zu ergründen, was das ist: Natur, Liebe, Geschlecht, das Leben selbst. Cennet Rüya Voß behält bis kurz vor Schluss ihren kindlichen Blick und die Aura der Unschuld – eine Velázquez-Infantin, aber von Thomas Gainsborough gemalt.
In magisches Licht getaucht
Der Programmheft-Text der Geschlechterforscherin Patsy l’Amour laLove hebt den Persiflage-Charakter der »Fantasy-Biografie« hervor, den die Melancholie angesichts gesellschaftlicher Realitäten noch verschärft. Woolf spaziert in der Tradition von Swift und Thackeray über die »Vanity Fair«. Das satirisch Skurrile und Ridiküle von Roman – und Inszenierung – enthüllt die repressiven Rituale des »rätselhaften Gebräus« der höfischen und bürgerlichen Gesellschaft, und ihrer Geschlechterpolitik, die von der Frau »Reinheit, Keuschheit, Sittsamkeit« fordert und dabei als Tugend-Apostelei nur die »Wahrheit« verstellt. Eine Wahrheit, die Woolf in dem / in der unsterblichen »Orlando« Fleisch werden lässt und für sich beglaubigt – in ihrer liebenden Passion für die Freundin Vita Sackville West, deren Wesen in Orlando einging. Ihr hat sie das Buch gewidmet.
Dass der »Orlando«-Rausch sich ernüchtert, zu sich selbst ins Verhältnis tritt und sich die dark side erschließt, ist unerlässlich – es geschieht in Düsseldorf. Die ruhevolle Position übergibt Regisseur André Kaczmarczyk einer schlicht erdfarben gekleideten Lady, die das ihrem Kopf entsprungene Geschehen betrachtet, reflektiert, kommentiert, dialogisch daran teilnimmt, sich dazu verhält. In ihren Tagebüchern hat Woolf imaginiert, wie es sei, wenn sie für sich selbst in ihrer zukünftigen Gestalt aus einer anderen Lebensphase schriebe. So tritt sie auf: Claudia Hübbecker ist ein reales Phantom, zurückgekehrt aus der Schattenwelt für The Hours, die Spiel und Stück dauern.
Die in magisches Licht getauchte Inszenierung lässt die Fabel des abenteuerlichen Herzens durchaus nicht aus den Augen. Sie macht sich einen Spaß daraus, mit Rüschen, Perücken und Federn zu wedeln (Kostüme: Martina Lebert), sich drei artistische Grazien, Hetären, Rhythmsticks und allegorische Erscheinungen zu erfinden, Schminke und Schwermut zu mischen, dem Preziosen einen Knacks zuzufügen und makellosen Camp-Stil durch den Schleudergang zu jagen. Sie versteht sich auf den Witz der Karikatur – bei der Queen (Rainer Philippi), beim berühmten Dichter-Kritiker Nick Greene (Cathleen Baumann), bei der erzherzoglichen Hoheit Harriet / Harry (Mehdi Moinzadeh), bei einer Society-Trophäe (Joscha Baltha) – legt sich quer zu erotischer Geradlinigkeit und stellt das vermeintlich Triviale neben philosophische Erkenntnis. Mit heißem Atem sucht Kaczmarczyk jedoch vor allem den Geist der Erzählung zu bannen: in Ausdrucksformen, die der (historischen) Zeit trotzen, die Orlando bewohnt.
»Orlando« ist Zeitroman, ein Roman über die Zeit, in dem die Zeit zeitigt, deren fixes Datum der 11. Oktober 1928 ist, an dem Woolf ihre(n) Orlando entlässt. Zugleich bleibt die Jahrhunderte überspringende Erzählzeit im Fluss. Dieses Fließen ist Woolfs Literatur in ihrer poetologischen Konstruktion eingeschrieben. Und diesem Fluss überlässt sich auch die kluge Inszenierung, die zugleich nachgiebig und widerspenstig in ihrer Performance ist und hinter dem Vitalen das Verlorene, Einsame, Vergebliche, das memento mori erkennen lässt, das Orlandos »Ichschichten« durchdringt.
Wie sieht das »Dämmerlicht der Zukunft« (Woolf) aus? Mit einer finalen Kraftanstrengung bringt Kaczmarczyk diese Zukunft – und damit seine Aufführung – zum Blühen, wenn Cennet Rüya Voß als Orlando im furiosen Monolog ekstatisch die Entdeckung des Jetzt als sich in unendlich viele Partikel explosiv auflösende Wirklichkeit feiert und Claudia Hübbecker als Virginia Woolf still das Paradies der Erinnerung (er-)findet. Bewusst, höchste Lust.
Die nächsten Termine: 7., 13. und 29. März