157 Flugreisen in etwas mehr als zwölf Monaten hat Stefan Schmidtke absolviert. Das will gemanagt sein. Womit eine Voraussetzung für seine Aufgabe genannt ist – neben der des Kalkulieren-Könnens und Kommunizierens und des Einschätzens von künstlerischem Potential. Schmidtke ist Programmdirektor des Festivals »Theater der Welt«, das im Mai 2020 in Düsseldorf seinen Austragungsort hat. Die vom Internationalen Theaterinstitut (ITI) ausgerichtete Leistungsschau, die gleichzeitig Experimentierbühne ist und die mal enger, mal loser mit dem jeweiligen Stadt- bzw. Staatstheater eine Ehe auf Zeit eingeht, findet im dreijährigen Turnus statt, jeweils woanders, jeweils mit einem neuen Kurator.
Das erste »Theater der Welt« gab es 1981 in Köln unter Regie von Jürgen Flimm unter anderem mit einer Werkschau von Pina Bausch, die es damals noch durchzusetzen galt, und dem Circus Roncalli. Danach hat TdW noch dreimal in NRW Station eingelegt: 1991 in Essen (unter anderem mit Ariane Mnouchkine), 2002 auf der Rheinschiene Bonn / Köln / Düsseldorf / Duisburg mit Matthias Lilienthal als Kapitän sowie 2010 während der Kulturhauptstadt in Essen und Mülheim an der Ruhr.
Der 1968 geborene Dresdner Schmidtke, der in Moskau an der Russischen Theaterakademie Regie studiert hat, ist ein Spätberufener – in diesem Fall, nachdem der ursprünglich gedachte TdW-Chef Slagmuylder als Intendant zu den Wiener Festwochen abwanderte, bei denen Stefan Schmidtke wiederum im Team von Luc Bondy und Stefanie Carp (»für mich eine Offenbarung«) engagiert war. Düsseldorf kennt er, man kann sogar sagen, er habe mit der Stadt noch eine Rechnung offen, seit er, der als Chefdramaturg mit Waldemar Holm herkam und in einer kurzen, schwierigen Zeit das Schauspielhaus neu aufstellen wollte, bis sich unter dem Gustaf-Gründgens-Platz das Millionen-Grab roter Zahlen fand.
Als ihn Schauspielhaus-Intendant Wilfried Schulz für die TdW-Leitung vom Berliner Humboldt-Forum mit Einverständnis von Kulturstaatsministerin Monika Grütters (deren Haus neben dem Land NRW und der Landeshauptstadt Düsseldorf den Etat trägt) abwarb, war das für Schmidtke wohl auch mit Genugtuung verbunden. Und mit dem Ehrgeiz, es nun zu zeigen, im Besonderen der Stadt.
Denn auch wenn das TdW nebenbei eine Fachmesse darstellt, was zählt, ist das Publikum. Und dem verspricht Schmidtke, bevor er Anfang Februar das 30 Produktionen aus fünf Kontinenten umfassende Programm präsentiert, »es richtig schön und ein großes Fest der Kunst zu machen«. Konkreter: nicht Anti-Theater, nicht die Bühne im »Ausschlussverfahren«, nichts »aggressiv und partout diskursiv« durchexerzieren, sondern »Konsens und Gemeinschaftlichkeit« herstellen und auch das große Format bedienen: das sei sein Ideal. Denn, auch das weiß Schmidtke aus Erfahrung, Düsseldorf ist nicht leicht zu nehmen. »Man lebt hier separiert voneinander.« Milieus und Szenen haben geringe Schnittmengen. Schmidtke möchte Kontaktstelle sein: »an Stäben rütteln, Gateways ausfahren, Trennräume öffnen, die Player einfangen«. Er wolle sich »sanft danebensetzen« und meint den Repertoire-Betrieb des Schulz-Schauspielhauses und keineswegs »eine Zwangskur« verordnen. Das müsse in NRW mit ästhetischen Erfahrungen, vermittelt durch die Ruhrtriennale, die Mülheimer Theatertage oder PACT-Zollverein doch wohl funktionieren.
Schmidtke sammelt Mitspieler und Spielorte für den »Tanz durch den Stadtraum« ein: die »heilige Adresse« Kunstsammlung, Tanzhaus und FFT, das Parlament, die Komödie und zuvörderst (»in vertrauensvoller Symbiose«) das Schauspielhaus und die »dicke Faust« seiner sieben Spielstätten plus technischem und organisatorischem Apparat – und mit dem frisch wiedereröffneten Haus am Gründgens-Platz im 50. Jubiläumsjahr seines Bestehens als dem Herzzentrum.
Es habe TdW-Jahrgänge gegeben, sagt Schmidtke, die sich eher vom Theater am Ort abgesetzt hätten. Diesen Ansatz verfolge er nicht. Im Gegenteil. Was auch die beiden Koproduktionen zeigen, die für das Große Haus entwickelt werden, eine mit afrikanischen, eine mit chinesischen Partnern, jeweils inszeniert von »zwei europäischen Regie-Größen«. Sieben Stücke stemmt Schmidtke ins Große Haus. Für die gilt wie für das Gesamtangebot: »Wir müssen exklusiv sein, das ist unser Segen und Fluch. Das TdW ist eine harte Marke.« Nichts von der Auswahl war schon auf einem deutschsprachigen Festival zu sehen.
Das Programm reicht von der Erzählung eines afrikanischen Nobelpreisträgers und zeitgenössischen Stücken über Opernhaftes zu Art-Performances, Choreografischem und Chorischem. Die Regisseure*innen sind meistens Ende 20 bis Anfang 40; »mutige und gewitzte Frauen«, darunter aus Japan, Chile und Indonesien, machen keinen kleinen Teil aus. Dabei bleibt TdW gegenüber den üppigen Festivals in Wien, Salzburg, Edinburgh, Avignon und der Ruhrtriennale vergleichsweise bescheiden. Wenn alles gut geht und Sponsoren nicht knausern, verfügt Schmidtke über circa vier Millionen Euro (Dreiviertel davon fließen in die künstlerischen Positionen).
»Das Tolle und das Fatale am TdW ist seine Diskontinuität und Originalität.« Kein Festival sei mit einem vorangegangenen zu vergleichen. Eine Neuerung wird sein, dass das Kinder- und Jugendtheater als Sparte voll integriert werde und etwa ein Programm-Drittel einnehme, auch deshalb, weil Düsseldorf da eine etablierte Struktur vorgibt. Kuratoren in Kapstadt, Toronto, Tokio und Santiago de Chile liefern diese Auswahl, die über alle Festivalbühnen läuft. Als zweites Novum plant Schmidtke ein Bildungs- und Vermittlungsprogramm mit Lectures und Workshops. Auch wird ein spezielles Sound-Art-Programm entwickelt, das unter anderem im »Salon des Amateurs« am Grabbe- sowie am Gründgens-Platz während der Festivalwochen akustische Signale setzt.
Wer heute und hier nicht über Europa nachdenkt, ist selber schuld: Deshalb setzt sich TdW im Jahrgang 2020 zu seiner Herkunft in Beziehung und befragt sich selbst »vor dem Horizont der anderen Erdteile«. Das soll Spaß machen, aber darf schon auch Mühe kosten.
»Theater der Welt« Düsseldorf, 14. bis 31. Mai 2020, www.dhaus.de/home/theater-der-welt-2020/