Unsere akute Gegenwart geriet in die Zeitschleuder, seit »Reich des Todes« im Herbst 2020 uraufgeführt wurde. Als Spätfolge der durch ›Gotteskrieger‹ neutralisierten Twin Towers erleben wir das von den Taliban im Handstreich genommene Afghanistan, wo das Desaster des Westens, seine Selbsttäuschung über die Wirklichkeit und der Ruin behaupteter moralischer Überlegenheit emblematisch wurde.
Diese Zäsur würde womöglich Rainald Goetz auch interessiert haben. Das »Reich des Todes« hätte sein Territorium erweitert, das der Autor ohnehin zum Allerwelts-Gebiet erklärt, in dem die Protagonisten deutsche Namen in verzerrt welthistorischer und preußischer Genealogie tragen. Um ein Kapitel angewachsen ist seine Kritik der Urteilskraft von demokratischen Staatswesen, Verfassungsbruch, institutionellem Bankrott und dysfunktionalen Beraterstäben, die weder souverän sind, was den Normal- noch den Ausnahmezustand betrifft. Sie erörtern die »Morgenlage«, aber vergehen sich am Tag, vergeben robuste Mandate, legitimieren Folter und de-legitimieren sich selbst.
Karin Beiers Uraufführung des Dramas über den 11. September, Abu Ghraib und die US-Regierung unter George W. Bush und Dick Cheney war ein wüster Tanz, eine grelle, böse Revue-Satire. Stefan Bachmann, der Goetz’ »Jeff Koons« 1999 an gleicher Stelle, dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg, uraufgeführt hatte (übrigens mit seinem jetzigen Düsseldorfer Intendanten-Kollegen Wilfried Schulz als Dramaturg), musste pandemiebedingt hintanstehen. Nun ist er da. Und wie!
Ist es nicht so, dass die Erniedrigung der Twin Towers mit der Erniedrigung der US-Gefangenen und Terrorverdächtigen durch die absolute Macht auf sie ausübenden Gefängniswärter beantwortet wurde? Goetz, der rationalen Wahnsinn in Reflexions-Irrlichtern scharf stellt, indem er ebenfalls das Gift des Idealismus wie des Zynismus verabreicht, entwirft in dem Stück ein nahezu unüberwindbares Assoziations-, Zitat- und Verweis-Labyrinth. Wie sich darin nicht verlaufen! Indem man es, wie Bachmann, als Konstrukt und Texttheorie offen- und als Hirn-Rave anlegt.
Choreografie der Silben
Nach preziösem Beginn in Rokoko-Roben, der die Walzer-Vorgabe im Text ignoriert, geben die Bühnenmusiker einen Rhythmus vor, der das einzelne Wort schluckt und als Scat ausspuckt. Der Goetz-Sound lässt uns schon kapieren. Die Taktung macht’s, der Sinn bekommt Impulse wie ein Elektroschlag. Das ist näher dran am Autor als das Repetieren Buchstabe für Buchstabe.
Die Choreografie der Silben exekutiert Rosa Enskat als Präsident Grotten virtuos wie auf einer eigenen Stimm-Tastatur. Die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft zeigt sich, wenn Enskat / Grotten danach als geschundener Häftling über den Boden kriecht. Später verwandelt sie sich für einen Opfer-Monolog in eine Kafka-Kreatur, um dann als Pop-Prothese Lynn Andersons Hit vom nie gegebenen Versprechen des »Rose Gardens« zu zelebrieren.
Olaf Altmanns farblich changierendes Gitterwerk strukturiert als Koordinatensystem die Bühne des Düsseldorfer Schauspielhauses: ins Netz gegangen, im www gefangen. Der künstliche Charakter der Figuren in Regierung, Militär, Gefangenenlager wird durch die Kleiderordnung herausgestrichen: Sie stolzieren im Rokoko-Karneval, tragen breitgestreiften Diplomaten-Look, soldatische Tarnkluft und das Schwarz von SS-Schergen – begründbar mit der Rückbindung von Goetz’ Text an die Unrechts-Justiz und das Mordregime der NS-Diktatur, ihre geistigen Befeuerer und den Untergang im Führerbunker.
Ein Exorzismus, eine Passion, ein Requiem
Das tolle Ensemble der sieben Darstellerinnen hebt die ›typische‹ Rollenzuteilung wirkmächtig auf. Dem Steigerungs-Aspekt von Sexualität als Gewalttakt und Verfügbar-Machen und wie sich dabei die Opfer-Täter-Relation nach Geschlecht sortiert, wird ein Strich durch die zu einfache Rechnung gemacht. Das ist ebenso ›skandalös‹ wie der Terror von Brutalität und Angst, der sich hier in frommer Litanei und religiöser Ekstase outet.
Bachmann und seine Schauspielerinnen erzählen mit aller erdenklichen Dringlichkeit eine muntere Finster-Moritat. „Reich des Todes“ ist bei ihnen Exorzismus der bösen Geister des Westens und deutschen Wesens, ist auch eine Passion, wenn in einer inszenierten Ruhepause die Gequälten – beschützt von Regie-Dezenz – zu reden beginnen, ist ein Requiem, zu dem Mozarts Totenmesse verfremdet erklingt.
Der Extrem-Epilog strapaziert und provoziert schließlich mit Melanie Kretschmanns 20-minütiger Solo-Suada: Goetz’ Künstler-Traktat über ALLES, gallig, erbarmungslos mit sich und Jedem, kulturpessimistisch, hochreflektiert. Auch wir sind ins Netz gegangen und gefangen.
Termine: 24.9., 2.10., 17.10., 23.10.