Nein, Pinneberg »tüffelt« nicht, wie im Roman, wenn er aus seiner Konfektionsabteilung im Warenhaus Mandel heim schlendert. Er tritt und treibt das Rad an, in dem er sich fort und fort bewegt, ohne irgendwo anzukommen. Oder nur dort, wo er nicht hin, wo keiner hin will und wo er sich nicht mehr erkennt, vor Elend und Scham, weil er ausgemustert wurde, abgewickelt, abgebaut und sich selbst ein Makel ist. Wie soll er auch verstehen? »Man nimmt nicht so leicht von seinen Träumen Abschied.«
Hans Falladas historischer Roman von 1932 ist ein Buch von heute und für heute. Tilmann Köhlers Inszenierung von »Kleiner Mann – was nun?« lässt daran keinen Zweifel, ohne es aussprechen zu müssen. Auf Karoly Risz’ Bühne im Düsseldorfer Schauspielhaus steht ein Riesenrad, aber nicht eines für die Kirmes des Lebens, sondern für die Tretmühle Leben. Ein Hamsterrad, gebaut in den kreisrunden Ausschnitt der schwarzen vierten Wand. Es ist auch eine Art Kameraobjektiv, das die Wirklichkeit scharf stellt: die Spätzeit der Weimarer Republik, aber nicht nur sie.
»Ein Leben ist das«, sagt Hannes Pinneberg, »ein erwachsener, normaler Mensch, normal ruhig, normal ängstlich«. Guter Durchschnitt, kein Held, kaum ein Held der Schwäche. Ruckzuck geht das: Sein ›Lämmchen‹ Emma ist schwanger, sie heiraten, wohnen möbliert, er verliert seine Stellung als Buchhalter, bald wird das Kind, ihr »Murkel«, da sein. Lämmchen schreibt an Pinnebergs Mutter Mia in Berlin, die hat was in petto, das verspricht sie. Sie ziehen in die Hauptstadt. Aber Mia Pinneberg nimmt den Mund gern voll, in dem sowieso immer eine Zigarette steckt; aber es gibt da ihren Liebhaber, den geschniegelten, etwas dubiosen, aber herzenswarmen Jachmann (Sebastian Tessenow). Er besorgt dem Jungen eine Arbeit als Verkäufer. Doch Pinneberg misstraut dem kleinen Glück und behält Recht. 170 oder 180 Mark Gehalt, wie soll es damit gehen? Weich ist er und hat nicht den Dreh raus, Schritt zu halten mit dem Schicksal oder es zu überwinden.
Müde vom Dauerlauf
Pinneberg lebt mit seinem Schatten, der ihn zur Doppelexistenz macht: Verdiener und Arbeitsloser zu sein, braver Bürger und einer, der seinem Staat nicht traut, satt und hungrig, folgsam und revoltierend – und immer angstvoll. André Kaczmarczyk gibt seinem »Kleinen Mann« Groll und Ingrimm mit und eine innere Atemlosigkeit, als würde seine Seele vom Dauerlauf müde sein.
Liebe, ein Kind, Sorge, Geldnot, die Wut darüber, wie es eingerichtet ist in der Welt, die Erfahrung, gerupft zu werden, und wenig Freude. Wie zwei Schulkinder nehmen Kaczmarczyk und Lea Ruckpaul ein Stück Kreide und rechnen ihren Haushalt nach Soll und Haben aus. Alles umsonst. »Alles ist Alleinsein« heißt es zum Schluss. Aber sie sind noch beieinander.
Das Rad ist Affenschaukel und Schiffschaukel und sogar Varietérad für bunte Eskapaden: Pinneberg und Lämmchen hängen und baumeln darin, klammern sich an einen Halt, rutschen, kraxeln und fläzen sich. Einmal scheint er geschmiedet ans Rad wie Freder Fredersen an die Stechuhr in Fritz Langs beinahe zeitgleichem »Metropolis« von 1927. Ein anderes Mal kämpft Lämmchen, der Lea Ruckpaul gläserne Klarheit gibt, die nicht kalt ist, gegen die unaufhaltsame Steigung wie gegen die Schwerkraft.
Man kann Hans Fallada nicht hoch genug rühmen. Diesen Ton, den macht ihm keiner nach, kaum der Horváth und auch Kästner nicht. Tilmann Köhler hat Falladas Vorlage konzentriert eingerichtet für nur drei Schauspieler, die in andere Rollen und Stimmen, etwa die der Mutter und der Schwiegereltern Pinnebergs, fallen, und auch als Erzähler und sich selbst reflektierendes Ich auftreten. Für einen Moment büxen sie aus in einen Traum von früher, als sie sich kennenlernten, im Sommer am Meer – da nimmt das Rad das Spiel der Wellen auf. Und wir schwingen sacht mit. Überhaupt: die Vorstellungskraft. Neben der Bewegungsenergie ist sie der starke Impuls dieser etwas mehr als zwei Stunden.
Sprengstoff Mensch
Eine Liebe beginnt mit Vorstellungskraft, wenn’s gut geht, einer gemeinsamen. Und ebenfalls das Leben von Hannes und Lämmchen und das Bühnen-Leben, das Kaczmarczyk und Ruckpaul uns vorführen. So hat das große Rad auch etwas von einem Projektor, durch den das perforierte Zelluloid läuft.
Wir wollen keinen Groschen verwetten auf die Zukunft von Pinneberg, dass und ob er anständig bleibt, nicht die braune Uniform tragen und den Arm recken wird, als Getretener das Treten lernt und womöglich noch Freude dabei hat. Nein, das wollen wir nun doch nicht glauben, um seiner und Lämmchens und des Menschlichen willen.
Pinneberg kehrt am atmosphärisch dunkel-dichten Ende nach einem Gang in die Stadt zurück als Geschlagener. Die machine infernale des Rads dreht sich auf der nun tiefen, leeren Bühne um die eigene Achse und schiebt sich in den Hintergrund. Jetzt sieht das Rad aus wie die Mündung eines Revolvers. Jetzt ist Pinneberg selbst Sprengstoff – oder erloschen. Kaczmarczyk nimmt das hölzerne Spielzeugpferd seines kleinen Sohnes an der Leine und zieht mit ihm zu Lämmchen. Da ist Trost. Ein wenig.
Termine: 21., 28. und 30. Oktober, 10. November, 3. und 26. Dezember, Düsseldorfer Schauspielhaus