Als Josef von Sternberg Heinrich Manns Roman »Professor Unrat« 1930 in Babelsberg verfilmte und aus dem Drama um Autoritätsverfall »Der blaue Engel« aufstieg, hieß es süffisant, der Erfolg des Films stünde auf den Beinen der Marlene Dietrich. Als Jerôme Savary 1986 das Musical »Cabaret« für das Düsseldorfer Schauspielhaus inszenierte, stand der Erfolg des Stücks nach dem Berlin-Roman von Christopher Isherwood auf den Beinen von Ute Lemper aus Münster, die sie bis New York trugen. Das neue Düsseldorfer »Cabaret« hingegen steht auf einem ganz anderen Fundament.
Vor 35 Jahren war unsere Welt vergleichsweise in Ordnung. Heute ist sie es nicht. Um »Cabaret« 2022 zu inszenieren, würde es nicht genügen, SS-Uniformen aufmarschieren zu lassen, Hakenkreuz-Flaggen abzurollen, das gewisse Schnurrbärtchen anzudeuten und zwischen Berlin und Babylon ein Gleichheitszeichen zu setzen. Der Nationalsozialismus wurde in den Künsten zur (nicht selten frivolen) Stilmanier, die eine Ästhetik des schrecklich-schönen Scheins produziert, kam wieder aus der Mode und blieb doch Projektionsfläche, um politisch soziale Gegenwart zum Tanz auf dem Vulkan aufzufordern. Wir erkennen die Rauchzeichen seit dem 24. Februar und erfahren mit dem europäischen Krieg in der Ukraine Teuerung, Geldentwertung, Wirtschaftskrise, Aufrüstung, gesellschaftlichen Extremismus. Diesen »Glutkern« (Walter Benjamin) der Aktualität sehen wir nun in diesem »Cabaret«.
Gewiss, auch die unvergangene Vergangenheit von 1929/30 kehrt auf die Bühne zurück, hinterrücks oder mit voller Wucht, aber sie ist nicht historisch hinter Glas. Die Uniform, die der HJ-Knabe trägt, wenn er »Der morgige Tag ist mein« singt, kann auch eine grell blaue Kluft sein, die Melodie in Walzertakt umschlagen und harsch mit der Trompete endigen. Es gibt kein Abonnement auf ein abnickbares Feindbild. Im Kit Kat Klub schlagen – rückwärts gelesen: Tik Tak – die Uhren anders. Es kommen härtere Tage!
Auf der Drehbühne von Ansgar Prüwer hängt zwischen wenigen Requisiten –Treppenhaus, Bett, Obststand, ambulant wie die Verhältnisse – beinahe unauffällig ein zerfetztes Plakat. »Wählt Nationalsozialisten« steht darauf, darunter kommt ein anderes zum Vorschein; zwei sich küssende Männer, vielleicht die werbende Aufforderung für »Mach’s mit«. So funktioniert die dreistündige Inszenierung von André Kaczmarczyk: zeichenhaft stark und im Freiraum des Dazwischen. Anders gesagt: im Irrealis der Realität. Dorthin unternimmt sie ihre Tanzschritte. Die unmögliche Liebesgeschichte der Clubsängerin Sally Bowles und des jungen Schriftstellers Clifford Bradshaw, in dessen Figur hinein sich Isherwood schrieb, als er seinen Roman »Goodbye to Berlin« verfasste, wechselt zwischen der Zimmer-Pension des Fräulein Schneider und dem Kit Kat Kabarett. Nicht so bei Kaczmarczyk. Die Grenzen sind offen und fluid, es findet reger Austausch statt, nicht allein vermittels des Conférenciers (ebenfalls Kaczmarczyk), der als Zwischenwesen irrlichtert, feixt, kommentiert, kiebitzt, ulkt und unkt, sondern überhaupt. Das Private und das Professionelle bedingen einander. Ein einziger Illusionsraum, keine zwei Welten: die schäbige Untermieter-Wohnung, in der Rosa Enskat als Fräulein Schneider ein Härtefall aus Not und Notwendigkeit ist und wo auch auf die Regieanweisung »Licht« hin Scheinwerfer angehen, und der sinistre Showroom, sie gehören zusammen. Künstlerschicksal. Vor dem Vorhang singt Sally »Maybe this time«, dahinter tut ein Double es ihr nach.
Grenzen zwischen den Geschlechtern lassen sich ebenso nicht fixieren. Im Schwarz von Leder und Lack mit Ketten und Nieten, die an Bondage und Dark Rooms denken lassen, sind sexuelle Präferenzen, Selbstverortungen und Selbstpräsentationen nicht eindeutig. So wenig es die Verbindung von Sally und Cliff (Belendjwa Peter) ist. Sie muss nur eine Mutter mit Kind sehen, um schwanger zu werden; bei ihm hüpft ein männlicher Betthase aus den Laken, den die Aufführung als ausgeschlossenen Dritten bis zum Schluss nicht vergisst. Lou Strenger als Sally mit der Power ihres gebrochenen Heroismus lässt uns kein bisschen Liza Minnelli vermissen. Die Spur geht Richtung Bette Midler, Fanny Girl Barbra Streisand, Irma la Douce, »Pretty Woman« vor der Korrumpierung durch Richard Gere und Truman Capotes Holly Golightly.
Bis zur Pause kitzelt die musikalisch (Matts Johan Leenders) und choreografisch (Bridget Petzold) mitreißende Inszenierung – besonders in den ewig grandiosen Songs von Fred Ebb / John Kander – mit ironischem Gestus das Erotische wie das Romantische, das Materielle wie das Ideologische. Sie wippt klimbimhaft in »Two Ladies« mit falschen Brüsten, einer Penis-Attrappe, falschem Blondhaar und Schnäuzer, stellt einen Riefenstahl-Modellathleten aufs Podest, findet in einem Money-Tresor eine Handgranate oder baut ein Märchenbild, das beinahe mehr an Hans Christian Andersen als an Hans Fallada erinnert. Es verschaukelt uns in Sicherheit.
Aber dann! Vom Step- zum Stechschritt nur ein knapper Wechsel. Wieder stürzen Grenzen: zwischen Macht und Ohnmacht, Dressur und Dominanz, Aufgeben und Widerstehen. Die Verdunklung lastet quälend, die Zeit lauert auf das Kommende, das doch schon da ist. Die Figur des kleinen Handlangers Ernst Ludwig (Raphael Gehrmann) ist zum gefährlichen Partei-Kommissar geschärft. Der Jude Schultz (Thomas Wittmann – ungelenk sanft wie James Stewart) macht nicht Hochzeit, sondern packt seinen Koffer, dafür genügt, dass ein Ledermann einen Apfel zerquetscht. Und Kaczmarczyk als Conférencier ist Kassandra, Ballroom-Diva, Lamento-Queen (»I don’t care«) und Todesanzeiger. Sie alle sind »Lost«, wie Isherwood seinen Roman ursprünglich nennen wollte. It’s over. Letzte Seufzer. Der finale Song »Life is a Cabaret« ist in Düsseldorf eine verzweifelte Elegie. Brutal, aufgeraut, dissonant, Lacrimosa und Dies irae. So kann Musical sein. Muss es auch wohl.
Termine: 9., 19., 29. Nov., 7., 10., 22., 31. Dez. sowie von Januar bis Mai
Düsseldorfer Schauspielhaus