Welche Kinderstücke sind auf den NRW-Bühnen zu sehen? Die kultur.west-Redaktion hat sich aufgemacht und Geschichten von Bielefeld bis Bochum, von Münster bis Düsseldorf angeschaut.
Im Comic-Stil
Der Zeichner und Regisseur Ekat Cordes bringt »Alice im Wunderland« in Essen auf die Bühne.
Diese Alice ist neu in Essen, aus Hamburg hergezogen, weil ihre Eltern sich getrennt haben. Und einfach ist das nicht für sie – die neue Schule, eine strenge, humorlose Direktorin, mobbende Klassenkameraden. Regisseur Ekat Cordes bringt Lewis Carrolls Kinderbuchklassiker aus dem Jahr 1865 erst mal ganz nah ran an die heutige Welt der Kinder. Andocken leicht gemacht. Aber nur um »Weirdo« Alice (Hân Nguyễn), eine begabte Zeichnerin, dann doch fix auch ins wunderliche Wunderland zu führen. Ist schließlich besser als nachzusitzen. In einer von Dalí und Miró inspirierten Traumwelt, für die Sita Messer hügelige, geschwungene Kulissenwände in Bonbonfarben entworfen hat, trifft Alice auf die bekannten Carroll-Figuren – auf Bunny, den Hasen, die Grinsekatze, den Hutmacher, das zerbrechliche Ei Humpty Dumpty und die superschlaue Raupe, die vor allem kein Wurm ist! Allesamt liebevoll gezeichnete Figuren in imposanten Kostümen und mit nerdigen Eigenarten. Ekat Cordes, der auch als malender Künstler aktiv ist, überzeichnet sie und ihre Sprache im »easy peasy bling bling«-Comic-Stil. Die herzlose Herzkönigin küsst cool ihre breiten, tätowierten Schultern und spuckt sich in die Hände. Sie lädt ihr Land zum »herzköniginlichen« Krocket-Spiel. Und wenn sich der dritte Mond von links vor die Sonne schiebt, dann, so ihre Drohung, hat es sich endgültig ausgefreut im Wunderland. So bedrohlich, so witzig sind die Begegnungen auf der sich drehenden Bühne. Die Grinsekatze schwebt vom Himmel, das Ei mit den ewiglangen Fingern hängt auf der Mauer fest. Und Alice, das mutige Kind, darf und wird sie alle retten. Ein rasanter Streifen mit Wohlfühlfaktor. HEP
Ab 6 Jahren, theater-essen.de, 1., 8., 22. und 26. Dezember
Der Tod spielt Tuba
Das Theater Münster wagt ein Experiment, das gelingt. Und zeigt »Sasja und das Reich jenseits des Meeres«, vertont von Gordon Kampe.
Gleich dreifach Mut beweist das Theater Münster mit der Wahl seines Familien-Weihnachtsstücks. Erstens, es ist Musiktheater. Und zwar, zweitens, kein Klassiker, sondern eine Uraufführung. Neue Musik! Drittens mit dem Thema: Es geht darum, wie ein Kind mit dem Tod der Mutter umgeht. Erfolgskomponist Gordon Kampe (2023 feierte seine Oper »Dogville« Uraufführung am Aalto-Theater Essen) hat den preisgekrönten Kinderroman »Sasja und das Reich jenseits des Meeres« der schwedischen Autorin Frida Nilsson vertont.
Auch Titelfigur Sasja beweist viel Mut – das Kind folgt der Mutter ins Reich des Todes und findet auf seiner Reise Unterstützung von phantastisch-tierischen Wesen, die Sasja durch das tosende Meer und übers gefährliche Gebirge und den reißenden Fluss bis zum dagegen gänzlich unspektakulären Haus des Todes begleiten. Der Tod selbst erweist sich als Sprüche klopfender Gaukler, der jeden neuen Gast mit tagelangen Torten-Gelagen feiert. Bei ihm trifft Sasja die Mutter wieder, ist allerdings inzwischen bereichert um die Freundschaften und Erlebnisse der Reise, um die Erfahrung des Loslassens und den Wert des Erinnerns.
Das Theater Münster macht aus dem Stück ein wahres Theaterfest. Sebastian Bauers Regie und das klug reduzierte Libretto (Carina Sophie Eberle) ziehen das Publikum schnell rein in die Geschichte. Unter der Leitung von Thorsten Schmid-Kapfenburg lässt das Sinfonieorchester Münster den Wind pfeifen, Schweine grunzen und Hunde bellen. Und der Tod: spielt Tuba. Kinder, die hier erstmals Begegnung mit dem Musiktheater machen, erleben das ganze Programm: kunstvolle Koloraturen, schmissige Duette, großen Orchesterklang und zarte, sphärische Klänge. Ganz große Oper! PIN
ab 8 Jahren, theater-muenster.com, 2., 3., 7., 15., 17., 22. und 26. Dezember, Termine im Januar und Februar
Kunterbunter Zeitraffer
Das Theater Bielefeld nutzt »Pippi Langstrumpf«, um mit einigen Klischees aufzuräumen.
Jeder kann alles sein, was er möchte. So kann man es aus der Geschichte von Pippi Langstrumpf herauslesen, die alleine in ihrer Villa Kunterbunt lebt, nicht zur Schule geht, das Leben der Nachbarskinder Annika und Tommy durcheinanderwirbelt und doch sehr gut zurechtkommt. Wo »Pippi Langstrumpf« an sich schon einige Mädchen-Klischees konterkariert, werden in der Inszenierung von Nick Westbrock in Bielefeld noch mehr Stereotype aufgebrochen: Hier ist Tommy (Janis Kuhnt) empfindsam und ängstlich, Annika (Susanne Schieffer) hingegen ziemlich smart – und beide sind schon von vornherein nicht so überzeichnet wohlerzogen, wie sie aus heutiger Betrachtung bei Astrid Lindgren aussehen. Die unkonventionelle Pippi (Gesa Schermuly) und ihr als Pantomime angelegter Buddy Herr Nilsson (Luise Kinner) wechseln angenehm zwischen Klamauk und Gefühlen, hier wird zugelassen, dass Pippi ihre Eltern vermissen darf, kurz bevor Frau Prysselius (Stefan Irmhaus), die Pippi in ein Waisenhaus stecken will, unter großem Gejohle des Publikums zum Seilspringen gebracht wird. Auch die Lehrerin (Oliver Baierl) wird von einem Mann gespielt und geht einfühlsam auf Pippi ein, wohingegen in einem Song deutlich gemacht wird, dass jeder auf seine Weise stark sein kann, und Pippi mit ihrer körperlichen Stärke nicht das Vorbild für alle Kinder im Saal sein muss. Das Theaterstück greift sich einige der Buchszenen heraus und hängt sie in rascher Folge aneinander, so fühlt es sich an wie ein kunterbunter Zeitraffer von Pippis Leben – unterlegt mit teils anrührenden, teils rockigen Liedern (Musik: Oliver Siegel). VL
Ab 5 Jahren, theater-bielefeld.de, zahlreiche Termine im Dezember
Zwischen den Wolken
Am Schauspielhaus Bochum fesselt Nils Holgersson vor allem durch seinen eindrucksvollen Hauptdarsteller.
Im Original heißt Selma Lagerlöfs Geschichte »Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden«, ist 700 Seiten dick – und zumindest in Deutschland kaum jemandem bekannt. Auch das Schauspielhaus Bochum konzentriert sich in seinem 80-minütigen träumerisch-melancholischen Familienstück auf den Flug des zum Wichtel verzauberten Nils mit den Wildgänsen und lässt sozialkritische Nebenhandlungen und Landeskunde außen vor.
Wenn man bedenkt, dass es sich um ein Stück für Menschen ab 6 Jahren handelt (Regie: Nils Zapfe), dann steht Jakob Schmidt als Nils Holgersson am Anfang erstaunlich lange vor dem geschlossenen Vorhang und erzählt eine lange Vorgeschichte. Man nimmt dem 25-jährigen Bochumer den Michel-artigen Lausbuben sofort ab, der es sich nicht nur mit seinen Eltern, sondern auch den Tieren auf dem Hof verscherzt hat. Als er auch noch einen Wichtel ärgert, schrumpft der ihn auf Wichtelgröße. Auch die Kinder im Publikum folgen diesem minutenlangen Monolog überraschend still – weil der Schauspieler so voll übersprühender Energie agiert, dass er Interesse weckt und bindet.
Wenn der Vorhang fällt, offenbart er keine Überfülle an Kulissen und Bühnentechnik – und die Gänse hängen auch nur einmal kurz an Seilen und fliegen wirklich durch die multifunktionalen Wolkenelemente. So ist dieser Abend auch ein Statement dafür, dass es keine Technik-Exzesse braucht, um junge Theaterbesucher*innen zu fesseln, sondern mitreißendes Spiel. Neben dem Hauptdarsteller bleibt vor allem Linde Dercon als Hausgans Martin in Barfußschuhen in Erinnerung. Der kraftraubende Flug mit den Wildgänsen und der Kampf um Zugehörigkeit scheint für sie ein mindestens so großes Abenteuer wie für Nils Holgersson. MFK
ab 6 Jahren, schauspielhausbochum.de, Termine bis März
Verliebt in Gummibärchen-Keksauflauf
»Die Schöne und das Biest« in einer Neufassung des Rheinischen Landestheaters Neuss.
Sie isst Pfannekuchen mit den Fingern, schmatzt und lacht sich kaputt, wenn das Biest ihr entgegenrülpst. Diese Belle ist etwas anders als die tugendhafte Schöne aus dem Volksmärchen. »Ich pfeif auf dein Geld, Du kannst mich mal!«, ruft sie dem Schönling Gaston entgegen, der sie erfolglos umwirbt. Zwar bleibt die alte Geschichte von der Schönen und dem Biest klar erkennbar, doch hat Dirk Schirdewahn, Regisseur und stellvertretender Intendant am Theater in Neuss, sie in seiner Neufassung spaßig aufgefrischt. Seine Heldin ist ein mutiges Mädchen, das zwar Belle heißt, aber weiß: »Wahre Schönheit kommt von innen.«
Belles armer Vater ist denn auch kein Bauer, sondern ein Künstler, dessen abstrakte Bilder keiner kaufen will. Auf der Suche nach Kunden zieht er los in die Stadt, verirrt sich ins Schloss, wo er nicht widerstehen kann und einfach zulangt. Belle ist fassungslos: Jeder wisse doch, dass man im Märchen nichts von Fremden nascht. Als das Mädchen statt des Vaters die Strafe als Gefangene antritt, hält sich der Respekt vor dem Monster in Grenzen. Als man dann noch die gemeinsame Vorliebe für Gummibärchen-Keksauflauf entdeckt, ist das Eis gebrochen. Weniger Grusel, mehr Witz. Dieses Rezept funktioniert hier bestens. Zu verdanken ist das besonders dem Diener Michel mit seiner Frisur, in der eine Maus haust. Mit ihrer Piepsstimme mischt sie sich ein, und wenn es romantisch wird, sorgt sie auf einer Mini-Stradivari für den Soundtrack. STST
ab 6 Jahren, rheinisches-landestheater.de, Termine bis Mai in Neuss, Lüdenscheid, Erkelenz, Gütersloh, Gummersbach, Monheim, Siegen, Emmerich, Dorsten, Ratingen und Witten
Fingerfertig
Kästners »Emil und die Detektive« kommt im Düsseldorfer Schauspielhaus etwas unschlüssig daher.
Erich Kästners Buch gehört zu den berühmten Berlin-Geschichten, wie Alfred Döblins »Alexanderplatz« ist es 1929 erschienen und zwei Jahre älter als Fritz Langs »M«. Es gibt eine Verfolgungsjagd durch die Metropole, bis der Dieb und Räuber Grundeis (Rainer Philippi), der Emil Tischbein (Moritz Klaus) während der Zugfahrt von daheim 140 Mark für die Tante aus der Jackentasche gestohlen hat, gefasst ist. Dank einer konzertierten Kinder-Aktion, angeführt vom gewieften Gustav mit der Hupe (Jonathan Gyles) und unterstützt von Pony Hütchen (Fnot Taddese), die auf ihrem Einrad balanciert und ab und an als Erzählerin fungiert.
Auf der Düsseldorfer Drehbühne des Schauspielhauses reihen und runden sich Elemente in den Signalfarben Blau, Gelb, Rot. Zum Bauklötze-Staunen reicht’s nicht. Dieses Berlin ist ziemlich von Pappe. Keine Wowereit-Hauptstadt: arm zwar, aber nicht sexy. Erich Kästner, der feine Spötter, Kinderfreund, zivile Ordnungshüter und Moralist wider Willen, macht in seinen Büchern keine Eskapaden: Er nimmt soziale Milieus und seine jungen Figuren ernst. Robert Gerloffs Regie aber ist unschlüssig, ob Kästners Klassiker im Gestern oder heute spielen soll.
Überhaupt kommt bei ihm die Handlung (Diebstahl, Verfolgung, Verhaftung, Belohnung) etwas mühsam zum Ziel, weshalb er sie füllt mit Zwischenspielen, Impromptus, Zitaten für Erwachsene und einer musikalischen Synchronisation mit geraden und schrägen Tönen, die Wort und Tat verstärken. Der finale Hip-Hop-Song, mit dem sich die Freundes-Bande feiert, schafft dann ein Wir-Gefühl zwischen Bühne und Parkett. Der witzigste Moment der 75 Minuten ist eine (Lang-)Fingerübung von einigem Geschick. AWI
Ab 6 Jahren, dhaus.de, zahlreiche Termine im Dezember und Januar, weitere Aufführungen bis April 2025