Zwei Menschen haben sich lieb. Ihre Lippen nähern sich. Doch kurz bevor sie sich berühren, hält einer der beiden eine Glasscheibe hoch. Während der Pandemie war das ein beliebtes Mittel, um Intimität darzustellen. Die Vorschriften am Arbeitsplatz Bühne ordneten an, dass ungeschützter Körperkontakt nicht erlaubt war. Die Glasscheibe war komödiantische Ironisierung und ermöglichte zugleich Momente der Intimität. Nicht selten wurde das Glas von beiden Seiten ordentlich abgeschlabbert.
Glas auf der Bühne hat immer etwas Faszinierendes. Covid mit all seinen Mutanten hat allerdings für eine besondere Konjunktur gesorgt. In Lot Vekemans Politikerdrama »Momentum« am Wolfgang-Borchert-Theater in Münster trug das Ensemble Plexiglasvisiere, was zunächst eigentümlich wirkte. Man hatte sich aber schnell daran gewöhnt, zumal die ganze Bühne von Glaswänden ummantelt war. Ein passendes Bild für einen Blick hinter die Kulissen der Macht, auf Menschen, die ihre Ideale verloren haben, gegen Depressionen kämpfen und doch irgendwie das Land regieren sollen.
Glaswände auf der Bühne schaffen Distanz, und doch kann man genau verfolgen, was hinter ihnen geschieht. Das Kleine Theater Bad Godesberg hat nach den Lockdowns große Plexiglasscheiben zwischen Publikum und Bühne aufgehängt. Im Thriller »Flurgeflüster« hatte man sie schnell vergessen. Es gibt aber auch Aufführungen, in denen die Trennung durch Plexiglas künstlerisches Konzept war. Der Kunstgriff machte die Zuschauerinnen und Zuschauer zu Voyeuren. Der Blick durch die Fensterscheibe gehört sich eigentlich nicht, doch man wird durch die Regie dazu gezwungen.
Wachsfiguren im Glaskasten
Nicht ganz so radikal ging Regisseur Sascha Hawemann am Schauspiel Bonn vor. In seinem selbst verfassten Stück »November« über die Perspektive der Punks auf die zu Ende gehende DDR hängte er Glasscheiben zwischen Publikum und Bühne. Doch die waren variabel und schlossen die Spielenden nicht komplett aus.
Kästen aus Glas kommen in vielen Bühnenbildern vor. Sie stellen Menschen aus, die vorgeführt werden wie Stücke einer Sammlung. Zum Beispiel kürzlich in der Oper Dortmund, in der Rarität »Fernand Cortez oder die Eroberung von Mexiko«. Da werden die Eroberer in einem Glaskasten auf die Bühne gefahren, Cortez sieht zunächst wie eine im Museum ausgestellte Wachsfigur aus.
Glas kann auch pracht- und stimmungsvoll sein. In der Oper »Katja Kabanova« am Theater Aachen sorgte prasselnder Regen auf eine Glasfassade für gespenstische Stimmung. Und der Kronleuchter in Andrew Lloyd Webbers Musical »Phantom der Oper« ist längst in die Theatergeschichte eingegangen. Wenn das riesige Ding über die Köpfe der Zuschauerinnen und Zuschauer hinweg saust, spürt man auf den besten Plätzen den Wind in den Haaren. Die Szene ist oft kopiert und parodiert worden.
Zerbrechendes Glas ist auf der Bühne natürlich gefährlich. In vielen Psychodramen werfen streitende Ehepaare Whiskygläser an die Wand. Am Zerplatzen hört man, dass es sich nicht um Effektglas handelt, das extra für diesen Zweck hergestellt wird. Es zerbröselt in eine Art Staub, die Verletzungsgefahr ist äußerst gering. Man muss dieses Effektglas allerdings vorsichtig anfassen.
Niemals ohne Whiskyglas
Eine Anekdote aus eigener Schauspielerfahrung: Bei einem Theaterkrimi im Restaurant wurde ich immer am Schluss als Mörder enttarnt und bekam eine Flasche aus Effektglas auf dem Kopf zertrümmert. Die zerbröselte allerdings schon in der Hand der Kollegin, so dass ich in einer improvisierten Karatenummer zu Boden geschickt wurde. Ein besonders toller Effekt ist es übrigens, wenn man in so eine Effektflasche ganz vorsichtig etwas Wasser füllt und sich Puder ins Haar reibt, das in Kontakt mit Wasser zu einer roten Flüssigkeit wird. Der Effekt einer Platzwunde ist täuschend echt.
Trinkgläser sind aus der Dramengeschichte nicht wegzudenken. Wer einen amerikanischen Klassiker von Eugene O´Neill oder Edward Albee realistisch inszeniert – im Bochumer Schauspielhaus ist gerade »Wer hat Angst vor Virginia Woolf?« herausgekommen – kommt kaum ohne ein Whiskyglas aus, in dem sich Alkohol und Tränen mischen. Im tragischen Finale von Schillers »Kabale und Liebe« trinken die Liebenden Luise und Ferdinand gemeinsam einen vergifteten Softdrink. »Deine Limonade war in der Hölle gewürzt«, sagt Ferdinand. Und als sie stirbt, lautet Schillers Regieanweisung; »Er greift nach dem Glase.«
Eine weniger tragische Rolle spielt »Das Glas Wasser« in der gleichnamigen und oft verfilmten Komödie von Eugene Scribe. Obwohl es im Titel genannt wird, spielt das Glas allerdings nur eine Nebenrolle. Die Königin von England bittet darum, während sie mit einem jungen Landadeligen flirtet. Doch wie das in den rasant konstruierten Stücken Scribes so ist – jedes Detail hat seinen Platz. Sonst würde die in sich logische Handlungsmaschinerie schnell auseinanderfliegen.
Glas in seiner Klarheit, Schönheit und Zerbrechlichkeit ist also elementarer Bestandteil des Theaters. Obwohl es durchsichtig ist, verändert es die Sichtweise. Wenn es Risse bekommt oder zerbricht, steht es meist für eine auseinanderfliegende Welt, die nicht mehr zu kitten ist.