Wenn sie vor diese Wand läuft, wenn sie die mit ihren Händen berührt, dann formen sich bunte Schlieren. Ihre menschliche Wärme zeichnet Bilder. Hoffnung versprechen diese allerdings nicht. Die Frau bleibt eine Gefangene hinter einer undurchdringlichen – ja, was eigentlich? Einer gläsernen Scheibe, die nicht splittert? Sichtbar ist sie jedenfalls nicht, diese Trennung, diese Barrikade. Aber spürbar, kühl und unüberwindbar. Marlen Haushofer veröffentlichte 1963 ihren Roman »Die Wand«, der in den 1980er Jahren von der Frauenbewegung und als Bild der atomaren Bedrohung wiederentdeckt wurde. 2012 verfilmte ihn Roman Pölsler mit Martina Gedeck in der Hauptrolle. In der Corona-Krise spielten viele Theater eine Bühnenversion der eigenwillig-beklemmenden Geschichte.
Am Schauspiel Essen inszenierte Thomas Krupa »Die Wand« als Virtual Reality-Film. Ausgestattet mit VR-Brille und Kopfhörer mit räumlichem Soundformat sitzen wir Zuschauenden nun entweder im Theaterraum auf Drehhockern oder auch bequem zu Hause und tauchen ein ins immersive Theaterlebnis. Ich blicke in ein schickes Tiny House, viel Holz, minimalistisch eingerichtet, große Fensterscheiben, Hochebene fürs Bett, Klettergriffe an der Wand, Siri antwortet aus der Smart-Home-Anlage. Mal beobachte ich die Frau von oben, mal schaue ich von innen nach außen, mal stehe ich vor dem Haus im Wald. Die Perspektive wechselt, die Sicht bleibt eingeschränkt. Für anderthalb Stunden verharren wir mit der Frau in der Enge, in die sie über Nacht gezwungen wurde, getrennt vom Rest der Welt. Ganz nah sind wir ihr, berührend unangenehm.
Sie richtet sich ein in diesem neuen Leben mit Hund und Kuh, schaut Videos, schießt Rehe, legt sich einen Kartoffelacker an, näht sich eine Wunde, zieht sich einen schmerzenden Zahn. Wir sind dabei, Furcht und Mitleid in 360 Grad. Sie zieht uns mit in die Angstlust des Alleinseins. Schauspielerin Floriane Kleinpaß gibt der Frau diese fast unerschütterliche Ruhe, die auch beim Lesen des Romans beeindruckt. Manchmal ist sie dem Wahnsinn nah, bleibt aber produktiv Handelnde. Es ist, als beschwichtigten sie ihre eigenen Worte, mit denen sie auch uns an ihren Gedanken teilhaben lässt. Kleinpaß spricht gedämpft, fast meditativ, mit jedem Wort reflektiert sie die Situation.
Wenn einem der Theaterraum auf die Pelle rückt
Was genau passiert ist, bleibt unsicher. Eine Klimakatastrophe? Das Ende der Zivilisation? Hin und wieder schauen wir auf die andere Seite, fahren mit der Kamera durch eine tote Gegend, zwischen grauen Gebäuden hindurch, wie von Christo mit Vorhängen abgehängt, ein steinernes Nichts gespickt mit eingefrorenen menschlichen Wesen. Krupa verstärkt noch Haushofers Naturbetrachtung. Irgendwann sehen und hören wir das Wetter nicht mehr bloß hinter der Scheibe, das Haus wird überwuchert, Pflanzen wachsen innen wie außen, es tropft und trieft. »Aber ich war kälter als der Wind und fror nicht«, sagt die Frau. Die Glasscheiben braucht’s nicht mehr, alles Leben drängt jetzt ineinander. Und durchs zerstörte Dach sehen wir den Sternenhimmel.
Nach «Der Reichsbürger« inszenierte Krupa zum zweiten Mal einen VR-Theaterfilm in Essen. Wieder erschafft er – zusammen mit VR-Artist Tobias Bieseke – einen anderen Theaterraum, einen, der einem auf die Pelle rückt, bewegend und bedrohlich, weil er keinen Schutzraum bietet, solange man die VR-Brille trägt. Diese Eins-zu-Eins-Erfahrung eignet sich hervorragend für Haushofers Geschichte. Freie Sicht zu haben, bekommt da eine ganz neue Bedeutung.
VR-Brillen-Lieferung im Essener Stadtgebiet
Termine im Februar: 4., 5., 10., 12., 24., 25. Februar
Termin live in der Casa am 24. März