Angenehm ist das nicht, wenn er mir seinen Personalausweis vor die Augen hält, wenn in meinem Rücken ein Bienenschwarm summt, wenn ich mich mitten in seinem düsteren Kellerraum befinde, ohne diese distanzierende Sicherheit, die einem anwesende Sitznachbar*innen oder die klassische vierte Wand geben. Immersives Theater setzt auf Unmittelbarkeit. Eintauchen statt reflektierendes Betrachten. Wer dann noch eine VR-Brille trägt, der begibt sich auch körperlich auf unsicheres Terrain. Wilhelm – verheiratet, keine Kinder, aber stolzer Hundebesitzer – raunt mir seine Ansichten über unseren nicht souveränen Staat direkt ins Ohr. Die »hautnahe Erfahrung einer Eins-zu-Eins-Begegnung«, wie es Thomas Krupa nennt. Der Regisseur hat nach der analogen Inszenierung von »Der Reichsbürger« auch eine 360°-Version dieses Propaganda-Monologs am Schauspiel Essen produziert.
Die VR-Inszenierung ist pandemiebedingt entstanden. Abgefilmtes Theater ist für Intendant Christian Tombeil keine Lösung, aber VR habe einen künstlerischen Mehrwert. Tombeil spricht von einer eigenen Kunstform, nennt Namen wie Nam June Paik oder Jenny Holzer aus der Bildenden Kunst als Wegbereiter. Und Thomas Krupa sei ein Theaterregisseur, der sich experimentierfreudig auf diese neue Form eingelassen habe. Die Inszenierung war bereits fertig, der Raum gestaltet. »Und dann haben wir die vierte Wand virtuell zugemacht«, erzählt Tombeil. Im Drehbuch wurde festgehalten, wo genau welche Kamera steht, der Abend dann Einstellung für Einstellung durchgespielt.
Thomas Krupa beschreibt VR-Regie als eine Choreografie der Aufmerksamkeiten der Betrachter*innen. Der Sound spiele deshalb eine entscheidende Rolle. »Spatial Sound«, der räumliche Klang, lenkt die Zuschauenden in ihrer Bewegung, in ihrer Haltung. Schauspieler Stefan Diekmann spielt den gefährlich-zuvorkommenden Reichsbürger, der uns mitnimmt in seine bizarre Gedankenwelt aus Verschwörungstheorie und Selbstverwaltungsdrang. Er spricht mich direkt an, vor mir, neben mir, hinter mir. Konstantin Küspert und Ko-Autorin Annalena Küspert haben in ihrem Stück den langen Monolog mit Texten von Georg Büchner verschnitten und stellen unsere Verführbarkeit auf die Probe. »Die Deutschland GmbH ist ein kapitalistischer Erlebnispark«, beschwört uns Wilhelm. »Das Geld fließt ins Ausland, aber nicht an den Bürger zurück.» Sein Ziel: Uns für seinen eigenen Staat zu begeistern. VR verstärkt die Wirkung: Wenn körperliche Distanz nicht möglich ist, fällt auch die kritische Reflexion schwerer. So wird die 360°-Inszenierung zu einem Kraftakt, physisch wie intellektuell.
50 Brillen und 50 Kopfhörer hat das Schauspiel Essen angeschafft, ausgeliehen werden können sie im Essener Stadtgebiet. Per Lieferdienst werden sie zum gewünschten Termin gebracht, ein paar Stunden später wieder abgeholt. Ob das Angebot ausgeweitet wird wie etwa am Staatstheater Augsburg, wo Projektleiterin Tina Lorenz die digitale Entwicklung voranbringt, ist noch in der Überlegung. Mit Lorenz stehen die Essener in engem Kontakt, ebenso wie mit der Dortmunder Akademie für Theater und Digitalität. Tombeil sieht in jedem Fall großes Entwicklungspotenzial für VR-Theater. In Essen arbeiten sie an dieser Kunstform zwischen Theater, Gaming und Film weiter, fürs nächste Frühjahr ist eine weitere Inszenierung mit Thomas Krupa geplant. Der Regisseur will analoges Spielen im Theater nicht ersetzen, aber er schätzt den hohen Grad an Emotionalität, der bei VR frei wird: »Auf der VR-Brille entsteht eine Art Zwischenraum, zwischen zwei Welten, von dem wir nur dann wissen, dass wir ihn nicht geträumt haben, wenn wir die Brille absetzen.«
VR-Brillen-Lieferung im Essener Stadtgebiet, Termine unter www.theater-essen.de