Woyzeck läuft und läuft und läuft. Schon als die Zuschauerinnen und Zuschauer in den Saal kommen, zieht der Schauspieler Paul Michael Stiehler seine Runden über die von Janja Valjarević gestaltete Bühne. Immer wieder zieht er die gleichen unregelmäßigen Kreise und macht dabei immer mal wieder ein paar Stechschritte, die einen an sein Soldatentum erinnern. Allerdings wirken die schon nach ein paar Runden ziemlich schwerfällig.
Woyzeck leidet schon vor Beginn der eigentlichen Inszenierung sichtbar an Erschöpfung. Mit diesem Vorspiel, das längst nicht alle Zuschauerinnen und Zuschauer gebannt verfolgen, setzt die junge Regisseurin Sarah Kurze in Bonn ein sehr deutliches Zeichen. Ihre Annäherung an Georg Büchners Dramenfragment konzentriert sich mit aller Macht auf die gesellschaftspolitische Dimension des Stoffes. Sie liest »Woyzeck« als ein revolutionäres Stück, durch das der Geist des »Hessischen Landboten« weht. Mehrmals zitieren die Figuren auf der Bühne Sätze aus Büchners Pamphlet ebenso wie aus »Dantons Tod«.
Der von Riccardo Ferreira verkörperte Andres verteilt einmal Zettel im Publikum, auf denen nichts als die berühmt gewordene Losung »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!« steht. Birte Schrein, die neben der Nachbarin Margret auch eine Art Kommentatorin des sozialen Unrechts spielt, agitiert die anderen auf der Bühne und die Menschen im Saal mit Passagen aus der großen Rede Saint-Justs. Mit diesen Einschüben weitet Sarah Kurze konsequent den Blick. Ihr Woyzeck ist eben kein Einzelschicksal. Paul Michael Stiehler, der fast die ganze Zeit über in Bewegung bleiben muss und fortwährend Demütigungen durch seinen sadistischen Hauptmann (Alois Reinhardt) und eine technokratisch-verblendete Ärztin (Julia Kathinka Philippi) ausgesetzt ist, wird regelrecht von den Verhältnissen zerrieben. Er will einfach seinem Schicksal entkommen und wird so einmal zum Selbstmörder und einmal zum Mörder an seiner Frau Marie (Sandrine Zenner).
Aber es gibt kein Ende für diesen Woyzeck. Sarah Kurze lässt die Handlung mehrmals von Neuem starten und verstärkt dabei jedes Mal den Druck auf Woyzeck. Der revolutionäre Gestus der Inszenierung gipfelt damit in einem bitteren Fatalismus. So spiegelt Kurze mit ihrer düsteren und aufrüttelnden Inszenierung zugleich noch die intellektuelle Entwicklung, die Georg Büchner in seinem kurzen Leben durchlaufen hat.

Ganz so ambitioniert ist Caner Akdeniz‘ Büchner-Überschreibung »(Making) Woyzeck« nicht. Er hat die ADA, die kleine Spielstätte im Essener Grillo-Theater, in eine Arena verwandelt. Das Publikum sitzt in zwei Reihen um die rechteckige Spielfläche, die auch mal zum Dancefloor werden kann. Auch die Schauspielerinnen und Schauspieler haben ihre festen Plätze in den Zuschauerreihen. Sie sitzen auf alten Röhrenfernsehern und beobachten das Geschehen quasi von außen. Anders als Sarah Kurze, die tief in die Gedankenwelt des Stücks und seines Autors eintaucht, blickt Akdeniz aus einer sehr gegenwärtigen Perspektive auf Büchners Fragment. Er nimmt es als Spielmaterial für sein Ensemble, das nie ganz in seinen Rollen aufgeht.
Eren Kavukoğlu und Sümeyra Yılmaz spielen gezielt mit den Liebes- und Eifersuchtsszenen zwischen Woyzeck und Marie. Sie zeigen die Gewalt, die sich aus Maries selbstbestimmtem Handeln und aus Woyzecks männlichen Besitzansprüchen ergibt, aber setzen ihr immer auch eine andere Version entgegen. Es muss nicht so kommen, wie es bei Büchner steht. Dafür flüchten sie in verschiedene Hollywood-Romanzen und entdecken im Spiel mit den Klischees eine Freiheit, die einen überraschend hoffnungsvoll entlässt. Die Tragödie findet nicht statt.
»Woyzeck«
21. Dezember 2023 und 31. Januar 2024 im Schauspielhaus Bonn
»(Making) Woyzeck«
13., 15. und 30. Dezember 2023 in der kleinen Spielstätte ADA im Grillo-Theater
Essen