Abhängigkeit. Der Begriff ist ein Generalschlüssel, um Dantes ins Jenseits schwindende Liebe zu verstehen – und nicht allein die seine. Roland Barthes beginnt seine nicht nur Liebeskranken zu empfehlenden »Fragmente einer Sprache der Liebe« mit A wie Abhängigkeit und schreibt zu Beginn dieses Paragraphen: »Die Mechanik der Lehnspflicht des Liebenden setzt eine bodenlose Belanglosigkeit voraus!« Nichts ist so kurios und heillos wie die sich am Nichtigsten festmachende Bezüglichkeit des Liebenden zum bzw. zur Geliebten.
Der etwa 30-jährige Dante Alighieri, dessen 700. Todestag am 14. September begangen wird, tritt in seinem Frühwerk »Vita Nova« (»Das neue Leben«) mit Frau Minne in herzlichste Beziehung, seit er als neunjähriger Knabe – ein Blick und die Liebe bricht aus – in Beatrice »die glorreiche Fraue meiner Seele« erkennt, ob diese nun allegorisch oder konkret sein mag. Im Wechsel von Prosa und Poem schildert er seine fromme Passion, die keineswegs endet, als die Verehrte stirbt.
Die ferne Geliebte und die sprechende Liebe – das gehört zusammen. »Lass es einfach raus«, fährt der strumpfbeinige William Cooper als eines von vier Dante-Erzähl-Ichs genervt einem zweiten Ich in die stotternde Monolog-Parade. Mit Anna Drexler, Anne Rietmeijer und Damian Rebgetz teilt er sich in die Gefühls-Recherche. Der die Saison in Bochum programmatisch eröffnende Titel »Das neue Leben« wie auch der Subtext der Inszenierung enthalten all die Verlustanzeigen – ausgesprochen und ungesagt –, die Dantes Epoche an die epidemische unserer Gegenwart wie mit Leichenbändern bindet.
Verwandlung ist ein weiterer zentraler Begriff. Der sehnsüchtig Liebende wird durch die Schmerzerfahrung und den Zustand des Unerfüllten zu einem verwundeten und verwundbaren Körper – und zum edlen Gemüt. Denn wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gibt ihm, Dante, ein Gott zu sagen, was er leidet. So steigt er in der »Commedia« hinab in die Unterwelt und hinauf zum Paradies, wohin der Schatten Beatrices ihn leitet.
Triumph der Imagination über die Erdenschwere – darum geht es. Auch bei Regisseur Christopher Rüping und seiner zweistündigen Verstofflichung in kunstvoller Kunstlosigkeit, die irisiert zwischen Etüde und Attitüde, Andacht und Aufmüpfigkeit, Selbstverliebt-Sein und Selbstverlorenheit. In schönster Direktheit schickt Rietmeijer den Tod zum Teufel, während William Cooper den Kontakt mit ihm theatral auskostet. Drexler kobolzt, Rebgetz leuchtet in seiner betörend manieristischen Sonderheit.
Innig, zärtlich, anrührend, treuherzig in kindlichem Ernst (beim Schlussgesang) ist dieses »Neue Leben« – dabei nie ohne Raffinesse. Dantes Sonette öffnen sich hier mit einem anderen Notenschlüssel zu einem musikalischen Paradies, in dem Hymnen von Meat Loaf und Britney Spears etc. ewiglich funkeln. Sie feiern den popkulturellen Liebesgottes-, Götzen- und Diven-Dienst: »I will always love you« erklingt als neue Marienvesper.
Auf der leeren Bühne sind neun sich verengende weiße Kreise eingezeichnet. Nach Beatrices irdischem Tod bewegt sich – in einem zeitlangen stummen, gestisch großen Intermezzo – ein magischer Lichtkreisel über die Kreise hinweg; Gestalten im Faltenwurf des Mythischen zelebrieren ihre Auftritte, und William Cooper geht ab bei seiner ekstatischen Personality-Dance-Show.
Auftritt Beatrice, ganz in Weiß, von Viviane de Muynck in vollendeter Abgeklärtheit verkörpert. Sie gibt Nachricht aus dem Jenseits. Die Unterweltliche, die sich wünschte, im Schattenland alt sein zu dürfen, hat den nüchternen, nachsichtigen und unduldsamen Realismus der Tod-Vertrauten. »Es war, was es war«, so wischt sie romantische Flausen hinweg. Am Ende heißt es doch immer: Verzicht und es auszuhalten. Alles Übrige bleibt Sentimentalität. – Jubel im Schauspielhaus Bochum, so dass die Toten erwachen.
Auff.: 11., 12., 19. September und 10. Oktober, Schauspielhaus