Ich lernte Wolfgang Welt in der Dunkelheit kennen. Schweigend und schwer atmend saß er bei einer nächtlichen Autobahn-Fahrt auf dem Beifahrersitz, irgendwann Ende der Nuller-Jahre muss das gewesen sein. Der Verein Psychiatrie-Erfahrener hatte ihn zu einer Lesung in Düsseldorf eingeladen, weil der Bochumer Schriftsteller in seinen Romanen auch Psychiatrie-Aufenthalte beschreibt. Wie immer schonungslos, aber auch merkwürdig distanziert, in einem atemlosen Telegramm-Stil. Zwei Dinge gingen mir so durch den Kopf als ich anbot, ihn mit zurück nach Bochum zu nehmen: »Der Typ ist eine Legende.« Und: »Der tickt nicht ganz richtig.« Aber wer tickt schon »richtig« in dieser Welt.
Stockend kamen wir ins Gespräch. Ich wollte keine nervigen Journalistenfragen stellen, aber doch so viel wissen: Arbeitete er wirklich seit 20 Jahren als Nachtpförtner im Schauspielhaus Bochum? Und warum? Das Theater ist ja auch eine Legende und eine Verschränkung zweier Legenden auf der Ebene dieser den Lebensrhythmus umkrempelnden Nacharbeit doch fast schon unwahrscheinlich. Hatte wirklich Peter Handke höchstpersönlich dafür gesorgt, dass seine Romane beim renommierten Suhrkamp-Verlag unterkamen? Schrieb er wirklich »einfach nur auf«, was er erlebt hat?
Mit jeder seiner knappen Antworten zwischen Atemzügen, die wahrscheinlich die Psychopharmaka so schwer machten, signalisierte Wolfgang Welt zwar: »Es stimmt alles.« Wahrscheinlicher wurde es dadurch trotzdem nicht. Ein Nachtportier, der sein Ruhrgebietsleben aufschreibt, Straßennamen, Kneipennamen, Bandnamen und weitgehend reale Namen von Kumpels und Bekannten aufreiht oder von Frauen, hinter denen er her ist. Ein Bochumer Nachtpförtner, der veröffentlicht im Verlag von Brecht, Bernhard, Handke, Hesse oder Frisch. Der hochgelobt wird in den großen Feuilletons und Pop-Magazinen dieser Republik. Und der trotzdem Nachtpförtner sein muss.
Sein Leben ein Roman
Es kam mir vor, als verlängerte der Autor auf dieser Autofahrt, die am Tresen des Kneipen-Restaurants Landau in Bochum-Langendreer endete, die literarische Figur Wolfgang Welt in die reale Welt – und nicht andersherum. Mit ihm unterwegs zu sein, hieß, durch Wolfgangs Welt zu navigieren. Diese Welt ist karg und trist, aber gibt doch gerade so viel Poesie her, um damit vier Romane und einige Erzählungen zu füllen. Ein Gesamtwerk, mit dem sich eine ganze Ausgabe der Literatur-Zeitschrift Text+Kritik von September 2021 auseinandersetzt. In gleich zwei Artikeln wird darin ein Zitat des Journalisten Frank Schäfer bemüht: »Im Grunde sind es auch gar keine Romane, sondern geradezu willkürlich einsetzende und nach einer Weile wieder abbrechende Erinnerungsstenogramme.«
Genau deswegen, weil das, was in seine Erinnerung wanderte, Literatur wurde, sein Leben ein Roman, waren die Begegnungen mit Wolfgang Welt außergewöhnlich. Natürlich fanden sie immer nachts statt. Manchmal ging man extra noch rüber zum Schauspielhaus, um zwölf, ein oder zwei Uhr, vielleicht vom Tresen der Goldkante: »Jetzt müsste er doch da sein!« Immer ein bisschen unsicher stand man dann an der Pförtnerloge herum, fühlte sich gelesen. »Was denkt er jetzt?« Wenn noch Schauspieler*innen von der aus dem Ruder gelaufenen Probe, aus der Kantine oder dem Raucherraum kamen, war manchmal ähnliches spürbar. Sie drückten sich um Wolfgang Welt herum, in einem kleinen Bogen durch das gedrungene Foyer des Bühneneingangs, mit argwöhnischen Augen. »Was denkt der jetzt?« Manchmal erzählten sie auch: »Der schaut mich immer so an…«
Sein Blick war gewissermaßen stoisch ruhend, fixierend, alles registrierend, nichts im Affekt bewertend. Vor seinen Augen verwandelten wir uns in Literatur, dachten wir, und wenn Wolfgang Welt noch ein paar Jahre länger zu leben gehabt hätte, hätte er vielleicht irgendwann über den Alltag, also die Allnacht, am Schauspielhaus geschrieben, über das ganze Theater. Aber vielleicht auch nicht, denn eigentlich kokettierte er gerne damit, dass er jetzt, wo er in seinem Romanen in der Zeit nach den psychischen Zusammenbrüchen, den manischen Phasen mit Wahnvorstellungen, angelangt sei, nichts mehr zu schreiben habe. »Ist ja nichts mehr passiert.« In seinem letzten Romanfragment »Die Pannschüppe«, das vor kurzem im Verlag Andreas Reiffer erschien, ging er in der Zeit wieder weiter zurück.
Geehrt von den Intendanten
So musste man ihn selbst mit ihm leben, diesen Roman eines Menschen, den die Medikamente so weit runterfahren, dass er äußerlich nur noch ein Schatten seiner selbst ist, aber beim Schreiben aus einer reichen Innenwelt schöpfen kann. Den Roman dieses Menschen, der Intendanten wie den leidenschaftlich streitenden Leander Haußmann, den elegant um sich selbst kreisenden Matthias Hartmann und den irgendwie beamtisch-blassen Anselm Weber an sich vorbei gehen sah, die ihn alle ehrten: Mit Vorworten, Lesungen oder sogar einer kleinen Rolle in einem Stück.
Dieser Mensch war dort hingekommen, wo er immer hinwollte: Ein weithin geschätzter Schriftsteller mit einem eigenen, nirgendwo (schon gar nicht im Ruhrgebiet) wiederzufindenden Stil bei einem der wichtigsten Verlage Deutschlands. Aus seinem Nachtwächter-Leben konnte er trotzdem nicht ausbrechen: »2000 Euro«, erklärte er mal, habe er von Suhrkamp für eine seiner Romanveröffentlichungen bekommen. 2000 Euro, die ihn nirgendwo anders hinbrachten als vor sein Radio in der Pförtnerloge, WDR4 spielte Oldies, vor die Überwachungskameras und in die leeren, dunklen Gänge des Theaters.
Des Theaters, in dem mit dem Tod Wolfgang Welts in 2016 die Nacht gleichsam mit ihm gestorben zu sein scheint. Man hört nichts mehr von ausschweifenden Feiern, aus dem Ruder laufenden nächtlichen Proben, Prügeleien in der Kantine. Der alten, fensterlosen Kantine, diesem schummrigen Zwischenort, hat man sich nach einem Wasserschaden entledigt, das Partyleben hat zuerst die Entscheidung zerstört, das Theater unten – den Nacht-Ort schlechthin – zu einem Ausstellungsraum zu machen, den Rest besorgte das Corona-Virus. Nachts sitzt immer noch ein Pförtner an Wolfgang Welts Platz, aber man beobachtet sich nicht mehr selbst dabei, wie man an ihm vorbeigeht und was man dabei denkt, fragt sich nicht mehr, wie man dabei aussieht und was aus dem Ort um einen herum geworden ist.
Text+Kritik, Heft 232: Wolfgang Welt, 103 Seiten, 24 Euro
Wolfgang Welt: Die Pannschüppe und andere Geschichten und Literaturkritiken, Verlag Andreas Reiffer, 400 Seiten, 20 Euro