Interview: Ulrich Deuter
Fotos: Anne Wirtz
Frank Goosens neuer Roman »So viel Zeit« ist eine Hommage an die Rockmusik der 70er Jahre und eine Aufforderung zum Schulterschluss mit der eigenen Jugend – weil da die Welt noch offen war. Die Helden des Buchs sind vier Männer jenseits der Vierzig, verbunden in Freundschaft und regelmäßigem Doppelkopfspiel. Wohlsituierte Angehörige der Mittelschicht, laborieren sie auch an Beziehungs- und Lebenskrisen, und so holen sie eines Tages zum Befreiungsschlag aus: Sie gründen die Rockband, von der sie als Jünglinge träumten. In Konnis Garage wird fleißig geübt, doch ihrer Musik – Songs von Deep Purple und anderen Legendenbands – fehlt der spirit. Bis die Gruppe es wagt, das Musikgenie Ole suchen zu gehen, der nach der Schulzeit verloren gegangen war. Ole ist in Berlin Berufsjugendlicher geworden und dabei ziemlich heruntergekommen; doch die »Energie« ist noch bei ihm. Und so gelingt den fünf älteren Herren bei ihrem Debütauftritt das Wiedererlebnis, dass Rock’n’Roll Sex ist – ein Auftritt, der ihr ganzes Leben verändert.
Ulrich Deuter traf Frank Goosen in einem Bochumer Szene-Lokal, um ihn zu fragen, ob die Wiederbelebung der eigenen Jugend nicht doch ein bisschen peinlich ist. //
K.WEST: Herr Goosen, Sie nennen ja nicht nur den Ort Ihres Romans genau, Bochum natürlich, sondern auch die Zeit: zunächst 1982, und dann 2007. Was ist das also für eine Generation, die vor 25 Jahren Abitur macht?
GOOSEN: Für mich ist das die Generation des großen Bruders, den ich nie hatte … Die Generation, die nach den 68ern und vor den Poppern kam – und den anderen klassischen 80er-Jahre-Generationen. Stark beeinflusst von ’68, aber nicht mehr dazugehörig.
K.WEST: Also die Provinzausgabe der Generation Golf?
GOOSEN: Nein, nein, noch lange nicht. Die Jungs in meinem Buch sind alle Jahrgang 62/63. Das sind drei oder fünf entscheidende Jahre vorher. Die Generation Golf waren ja die, wie Florian Illies sagt, die am Samstagabend vor »Wetten dass?« saßen und wie sonst selten in ihrem Leben sicher waren, genau das Richtige zu tun. Das trifft auf die Männer in meinem Buch nicht zu. Also: Das ist die Generation davor, die Generation Lange Haare, oder besser noch: die Generation Rockpalast. Wer 1963 geboren war, war fanatischer »Rockpalast«-Anhänger. Musikalisch gesehen, die Generation, die nicht abgefuckt genug war für Punk, die sich aber für die Oberflächlichkeit von Disco-Musik nicht interessiert hat. Sondern für eine Musik, technisch gut gespielt, aber doch noch von dem gewissen rebellischen Geist. Wie eben der klassische Hardrock der 70er. Für die Jungs im Buch ist klar, dass ab 1982 musikalisch alles den Bach runter gegangen ist. Die lieben die Musik vorher.
K.WEST: Das Etikett »Generation Golf« hefte ich Ihren Protagonisten deshalb an, weil sie es offenbar problemlos im Leben zu Positionen gebracht haben, die sie nicht infrage stellen. Politisch scheinen sie ortlos zu sein, sie definieren sich ausschließlich über ihre Jugenderfahrungen. Deshalb: Generation Provinz-Golf!
GOOSEN: Erstmal ist die Charakterisierung des Ruhrgebiets als Provinz für mich schon mal generell nicht hinnehmbar. Und außerdem unterstellt Ihre Zuordnung, dass alles, was vor der Generation Golf war, per se politisch gewesen sei. Und das stimmt ja auch nicht.
K.WEST: Sie sagten selbst, Ihre Jungs seien noch affiziert von ’68 …
GOOSEN: Ästhetisch vor allem. Was sich in der Musik niederschlägt. Ich hätte natürlich auch noch politische Überzeugungen mit hinein nehmen können, das hätte das Buch aber zu sehr aufgebläht.
K.WEST:Welcher Generation sie auch angehören, sie wachen eines Tages auf und fühlen sich alt …
GOOSEN: Nee! Die wachen nicht plötzlich auf, sondern das ist ein schleichender Prozess. Der im Roman »Bulle« genannt wird, ist vor ein paar Jahren Witwer geworden, darunter leidet er. Außerdem weil er als Alleinerziehender Stress hat, weil er einsam ist, weil er seit Jahren keinen Sex hatte. Genauso fallen auch bei den anderen die Krisen nicht vom Himmel. Konni, der Lehrer, ist von seiner Frau verlassen worden, Thomas, der Schriftsteller, hat auch schon seit Jahren keinen beruflichen Erfolg mehr, Reiners Ehe ist auch schon länger eingeschlafen, neu ist höchstens, dass er nun um eine schwere Erkrankung fürchtet. Sie werden sich also nicht plötzlich darüber im Klaren, dass sie in einer Krise stecken, sondern ihnen wird plötzlich bewusst, dass man aktiv was dagegen tun kann. Es gibt bei ihren Doppelkopf-Runden den Running gag: Wären wir fünf, wären wir ’ne Rock-Band. Und auf einmal sagen sie: Ja, warum nicht! Und dann stellt sich heraus, dass dieser Entschluss in ihnen Energien mobilisiert, die sie vergessen geglaubt haben. Dadurch wird er zum Katalysator für ihre Probleme. Denn mit der Rockmusik nimmt man Kontakt auf zu seinem alten Ich. Das natürlich noch offener war, das das Leben mehr als Chance begriffen hat, mehr Energie besaß.
K.WEST: Ist das Buch also kein Protest gegen die Demografiedebatte, jenes Forever old, das uns seit einiger Zeit von Seiten der Politik und mancher Feuilletons entgegengehalten wird?
GOOSEN: Ich wusste gar nicht, dass es dieses Forever old gibt …
K.WEST: Ab 2050 ist mehr als die Hälfte der Deutschen über 50.
GOOSEN: Im Ruhrgebiet dann sicher zwei Drittel!
K.WEST: Also, Ihre fünf propagieren: Lass uns uns wieder jung machen. Um allen Problem zu entgehen.
K.WEST: Aber sie verhalten sich nicht wie ein Haufen pubertierender Jünglinge, schmeißen keine Drogenpartys, werfen keine Fernseher aus dem Fenster. Sie machen es schon bewusst und mit einer gewissen Reife. Sie erkennen, man kann die Sau rauslassen, auch wenn man Mitte 40 ist. Das muss nicht peinlich sein. Meine Jungs stehen einigermaßen schlicht auf der Bühne, nehmen ihre Musik ernst, so wie sie sie früher auch ernst genommen haben. Und entdecken an sich Talente, die bis dahin völlig verkannt waren, wie der Konni, der plötzlich Bassgitarre spielen kann.
K.WEST: Erweiterung des Horizonts, Zuwachs an Mut – aber mit Mitteln, die der eigenen Jugend entlehnt sind. 25 Jahre alt sind.
GOOSEN: Die Art und Weise, wie die Band spielt und auftritt, ist ohne die Reife ihres Alters nicht zu denken. Ist kein reines Regredieren. Denn das wäre peinlich. Verstehen Sie, was ich meine?
K.WEST: Ich verstehe, was Sie meinen. Ich überlege nur, was ich dem entgegenhalten kann, denn ich habe weiterhin das Gefühl …
GOOSEN: Sagen Sie doch einfach, ich habe recht!
K.WEST: Ich finde weiterhin: Die sind ganz schön kindisch, Ihre gesettelten Mittvierziger.
GOOSEN: Ja, bisweilen. Aber das sind wir doch alle mal.
K.WEST: Vielleicht können wir uns zum ersten Mal darin einig sein, dass Ihre fünf mittelalten Helden stark auf ihre Jugend fixiert sind. Nicht jeder würde in dem Alter auf die Idee kommen, so emphatisch die Musik von damals zu hören. Und sie sogar auch noch selbst zu spielen!
GOOSEN: Dem würde ich sofort komplett widersprechen. Wer in dem Alter setzt sich denn mit moderner Musik auseinander, wer mit moderner Rockmusik?
K.WEST: Und warum nicht?
GOOSEN: Bei vielen Leuten, sicher nicht bei allen, lässt mit fortschreitendem Alter eben das Bedürfnis nach, sich mit neuen Sachen auseinanderzusetzen.
K.WEST: Also doch: Ein typischer Alterungsprozess!
GOOSEN: Ja. Und es ist doch viel logischer, wenn man es denn überhaupt will, sich die Musik aktiv anzueignen, die einen geprägt hat, die einen emotional umgegraben hat in der Phase der Menschwerdung, also in der Pubertät. Man wird ja nie wieder eine so innige Beziehung zu einer Musik besitzen.
K.WEST: Aber das betrifft doch alle Lebenserfahrungen in der Zeit der Pubertät, nichts ist später mehr so intensiv. Ob es Liebe, Verhalten, Kleidung ist – alles. Und dennoch benimmt man sich später nicht mehr so wie damals.
GOOSEN: Stimmt. Dann habe ich aber den Beweis erbracht, dass es mit Rock- Musik geht und mit anderen Sachen nicht.
K.WEST: Kann man nicht in Würde älter werden?
GOOSEN: Warum ist es würdelos, die Musik zu hören, die man mit 17 gehört hat?
K.WEST: Weil man sich doch mit zunehmendem Alter neuen Horizonten öffnen sollte. Auch mal etwas anspruchsvollere Musik hören sollte.
GOOSEN: Gut, wenn es ausschließlich die von früher ist, kann es schon mal ein bisschen peinlich werden. Aber vielleicht tun meine Jungs das ja auch nicht. Das habe ich nicht ausdrücklich expliziert. Es ist aber auch ein Klischee zu glauben, wer sich permanent um die neuesten Entwicklungen kümmert, hat damit einen erweiterten Horizont. Ich kenne ganz engstirnige Leute, die sich für Sachen nur deshalb interessieren, weil sie neu sind. Und nicht, weil sie für eine bestimmte emotionale Qualität haben.
K.WEST: Die fünf haben außerordentlich genaue Erinnerungen an ihr Damals, sie wissen auf den Monat genau, wann eine Party, eine Klassenfahrt stattfand. Sie sind immer noch mit Kumpels von damals befreundet, über zweieinhalb Jahrzehnte hinweg. Es scheint, als wäre den Männern in der ganzen Zwischenzeit nichts Wesentliches passiert. Sie haben ihre Familien, ihre Berufe, aber was damals war, scheint heller zu strahlen als die Jetztzeit.
GOOSEN: Also erstmal ist, eine Familie zu gründen und eine Karriere einschlagen, schon etwas sehr Wesentliches.
K.WEST: Spielt aber im Buch nicht die Rolle. Die starken Elemente speisen sich alle aus den Erinnerungen an früher.
GOOSEN: Das stimmt, das liegt aber daran, ich bin prinzipiell ein sentimentaler Typ. Ich bin mit mehreren Leuten seit über 20 Jahren befreundet. Und ich sitze jeden Monat in einer Doppelkopfrunde, in der ich genau der Benjamin bin, der auch der Thomas im Buch ist. Und die Leute feiern tatsächlich dieses Jahr zusammen ihr 25-jähriges Abi-Jubiläum. Genau wie im Buch. Und kennen sich seit dem 5. Schuljahr. Das ist das Umfeld, das mich geprägt hat. Ich bin erstens sentimental, wie gesagt, dann jemand, der sich auch geografisch nicht dauerhaft wegbewegt hat. Ich bin zwar viel auf Tour, aber ich habe nie woanders gewohnt als in Bochum. Bin hier geboren, aufgewachsen, habe hier studiert. Das schlägt sich dann in dem Buch nieder.
K.WEST: Ihre Helden versuchen an einem Punkt, an dem es im Leben schwierig wird, einfach zurück auf Anfang zu gehen.
GOOSEN: Nee. Sie brechen neu auf. Konni zum Beispiel löst sich von der Frau, die ihn hat sitzen lassen. Die Tatsache, dass er aus dem Nichts heraus das Bassspielen gelernt und dabei ein gewisses Talent in sich entdeckt hat, gibt ihm ein solches Selbstbewusstsein, dass er sich auch noch traut, eine Kollegin anzusprechen, die sich für ihn interessiert. Das ist ein konstruktiver Umgang mit seinem Leben. Die Kraft dazu gewinnt er aus etwas, das ihm emotional nahe ist, das ist die Musik seiner Jugend. Das ist das einzige Rückwärtsgewandte dran.
K.WEST: Ich verstehe nicht, wie die neue Kraft aus der alten Musik kommen kann, wenn es doch an einer Stelle im Buch heißt: »Man konnte eigentlich mit dieser Musik nicht alt werden. Der Zorn wird unglaubwürdig, das Geschlechtliche peinlich, die Stimme rutscht ab, die Finger werden langsamer.«
GOOSEN: Das ist Figurensprache. Das denkt sich Thomas.
K.WEST: Ja, gewiss, doch diese Einschätzung widerspricht dem, was genau diese Musik angeblich an Kraft besitzen soll.
GOOSEN: Stimmt. Es ist sicher ein Zwiespalt, denn einerseits wissen die Jungs, dass sie es eigentlich nicht mehr machen können. Aber wenn sie es doch machen, funktioniert es seltsamerweise. Man hat ja oft so eine Situation im Leben, wo man sagt: Das ist unvernünftig, aber ich mache es trotzdem. Meine eigene fanatische Wiederhinwendung zum VfL Bochum kann man auch unter die Rubrik »Gespaltenes Hirn« fallen lassen. Man kann es auch so deuten: Man soll sich losmachen von den ganzen Klischees darüber, wie man sich im Alter zu verhalten habe. Letztlich kann es ja auch die Rückkehr zu etwas sein, was einem wirklich wichtig ist. So ist das jedenfalls bei mir. Ich habe viel ausprobiert, aber ich komme auf drei Kernthemen in meinem Schaffen zurück, sowohl als Autor, als auch als Kabarettist. Das sind Fußball, Heimat und Rockmusik. Auch ich habe mal versucht, klassische Musik, zu hören, aber die gibt mir einfach nichts. Lange Zeit habe ich auch gedacht, Fußball gucke ich nur noch auf Entfernung. Aber jetzt habe ich den Mut, mich wieder ganz darauf einzulassen, fast wieder mit kindlicher Begeisterung, und das hat eine enorme Ventilwirkung. Das ist alles immer ein bisschen ambivalent und paradox.
K.WEST: Das heißt, Ihr Buch wäre auch ein Plädoyer – falls Romane Plädoyers sein können, wollen, dürfen – dafür, diese ganzen Generationenkonzepte, die vorgeschriebenen Verhaltensweisen für Jung und Alt zu sprengen, nicht so ernst zu nehmen.
GOOSEN: Ja. Dafür, mit 40, 45 so zu sein, wie es einem richtig erscheint. Ab und zu muss der Mensch eben auch mal sagen: Scheiß’ drauf. Egal, ob ich mich blamiere oder nicht. Ich gebe zu, das sollte in einem gewissen Rahmen bleiben. Und die Band kriegt es hin – wenn ich mir vorstelle, wie die spielen –, das Ganze mit einer gewissen Würde zu absolvieren. Wenn wir uns diese Band angucken würden – vielleicht können wir sie uns demnächst im Film anschauen –, dann muss das auch so eine sentimental-ironische Note bekommen. Man muss das ernst nehmen und trotzdem drüber lachen können.
K.WEST:Wenn man denn nun der Generation Rockpalast angehört, wie wird man da in Würde alt?
GOOSEN: Jeder Mensch hat nur dann die Chance, in Würde alt zu werden, wenn es ihm gelingt, etwas zu entwickeln, über das auch ich nur im geringen Maße verfüge, und das ist Gelassenheit. Diese Eigenschaft hätte ich an mir selber gern ausgebaut. Also wenn man erkennt, man muss nicht mehr irrsinnige Klimmzüge machen, um jedem alles zu beweisen. Zum Beispiel, dass ich offen bin für neue Musik. Ich kann mich hemmungslos meinem Sentiment hingeben. Das kann auch eine Art von Würde sein. Wenn ich mit Mitte 50, Mitte 60 meine Rockmusik spiele und dabei so tue, als wäre ich zu dem Zeitpunkt wieder 18, dann kann es nicht funktionieren. Dann hat das keine Würde. Aber wenn man sagt, ich stehe hier, das ist meine Musik, ich bin damit aufgewachsen, ich bin älter geworden, und trotzdem bedeutet sie mir noch etwas, dann kann das eine gewisse Würde haben.
Frank Goosen: So viel Zeit; Eichborn Verlag, 352 S., 19,95 €