Vielleicht ist der Ich-Erzähler Max Denyer gar nicht die Hauptfigur des Romans, der »English Monsters« – nach einem Zitat aus Shakespeares »Heinrich V.«. Sondern dessen bester Freund Simon Drake und ein paar weitere Kameraden im Internat als der Schaltstelle ihrer Biografien, die Brüder Luke und Ali und der verschüchterte Neil Lynch. Vielleicht wäre ein anderer der richtige erste Satz des Buches gewesen, der aber erst auf Seite 51 steht: »Es war von Anfang an klar, dass es schlecht enden würde.«
Stattdessen erfahren wir zum Auftakt von Max, dass sein Großvater »gerne vor den Neun-Uhr-Nachrichten zu Bett« ging. Was insofern jedoch von Belang ist, als dieser unerschrockene, im Leben tief verwurzelte Bauer von Falstaff-Format die Beständigkeit schenkende Bezugsperson für den Enkel bedeutet, während der Vater als Unternehmensmulti-Globetrotter und seine Frau mit ihm abwesend sind. Grandpa bringt dem geliebten Max als Rüstzeug bei, dass man sich »mächtig ins Zeug legen« müsse und nur ja seinen Mund aufzutun habe.
In seinem stupend klugen Großwerk »Du musst dein Leben ändern« besetzt Peter Sloterdijk die Stelle des homo sapiens neu mit dem homo artista, dessen Anthropotechnik es sei, sich in Form zu bringen, im Training zu halten, in Übung zu bleiben. Was aber, wenn das Basislager, das die Lebensakrobatik lehren und stützen soll, den Eleven lähmt, verkürzt, lädiert, bricht?
Über fast drei Jahrzehnte, die nicht chronologisch und überhaupt in Intermezzi ablaufen und während derer sich das gewesene Weltreich Großbritannien auf New Economy und den Neoliberalismus einschwört, begleiten wir den Jungen Max, der zum 20-, 30-, 40-Jährigen heranwächst, Fast-Ehemann und Vater eines getrennt von ihm lebenden Sohnes wird und in ungefestigter Position als Übersetzer arbeitet, nachdem er zuvor eine Weile als Klavierspieler gejobbt hat und umhergegondelt ist.
So akkurat detailgenau in der Innenbeschau und gewandt im Abbilden sozialer Konventionen James Scudamore ist, um Max und die anderen zu beschreiben, so sehr füllt das Zentrum ihrer Geschichten eine Leerstelle. Richtiger: eine Stumm-Stelle. Das Geheimnis. Das Verbrechen. Das Tabu.
Das Internat auf dem Hügel, unweit von Max’ großelterlichem Heim, ist kein Hogwart’s oder nur insofern, als es eine Kammer des Schreckens darstellt, bewohnt von Angst, Zwang, Schmerz und Scham. Das System von Strafe und sadistischer Grausamkeit beinhaltet auch sexuellen Missbrauch durch den Lehrer Weapons Davis und Veruntreuung – in einer nicht auslotbaren Grauzone – von Vertrauen und Freundschaft und Abhängigkeit wie bei dem sanftmütigen Ian Crighton, genannt Crimble. Die Ablagerungen all dessen sind dauerhafter, als die Gemäuer der Schule.
Simon Drake trägt die größte Schweige-Last mit sich. Wenn er Max spät davon mitteilt, tut er dies ohne Emotion, frei von Sensation und überzeugt von der Unschärferelation zwischen Täter und Opfer.
Die früheren Zöglinge passen nicht mehr in ein Design von Leben, selbst wenn äußerer Erfolg – als IT-Tüftler, Game-Entwickler, juvenile Start-up-Kreative – danach aussieht. Sie sind keine »lads«, wie Musa Okwanga in seinem Buch über das Elite-Institut Eton eine spezifische Klasse von Absolventen mit erhabenem Selbstbewusstsein nennt. Sie bleiben ambulante Existenzen: mit scheiternden Beziehungen, Tod durch Suizid, in Isolation und Selbstaufgabe. Störanfällig für das, was in ein sorgsam angelegtes Konstrukt von Selbstschutz, Kontrolle und Gleichgültigkeit eindringt. Max indes scheint am Ende mit sich im Reinen. Vielleicht täuscht er sich – oder wir täuschen uns in ihm.
James Scudamore, »English Monsters«, aus dem Englischen von Ulrike Wasel & Klaus Timmermann, hanserblau, 448 Seiten, 22 Euro.