Rheinromantik. Klingt nach weißen Flotten und ziehenden Lastkähnen, nach trutzigen Burgen, felsigen Hängen, überlaufenden Städtchen und Willy Schneider, der singselig mit einem Glas Wein prostet. Das ist aber nicht der Rhein, für den sich Hans Jürgen Balmes begeistert. Für den Lektor und Übersetzer, der 1958 in Koblenz geboren wurde, der für »Mare« über die »Quellen der Meere« schrieb, war der Rhein schon immer ein prägender Teil seines Lebens. Mehrfach wanderte er zu dessen Quellbächen in den Alpen oder fuhr mit dem Faltboot seines Vaters über den Fluss, um dessen Charakter zu ergründen und die Stille und die Spiegelungen des Wassers zu genießen.
Sechs Jahre hat Balmes für sein Buch recherchiert – zeitlich nichts gegen die Geschichte des Rheins, der einst an seiner heutigen Mitte entsprang, in einem tropischen Ozean voller freundlicher Seekühe. Ein Grabenbruch in der Erdkruste, der erst nach der letzten Eiszeit vor 8000 Jahren sein jetziges Bett fand. »Der Rhein« ist weder Geschichtsbuch noch Reiseführer. Balmes nimmt erzählerisch die bekannte Route von den Quellen und dem Hochrhein in der Schweiz bis hinunter zum Mündungsdelta in die Nordsee. Beschreibt Gegenwärtiges und Vergangenes, erzählt von den verschiedenen Charakteren des Flusses, der sich anfangs als schäumender Wildbach durch Felsen gräbt, um später zu einem breiten, majestätischen Strom zu werden. Parallel dazu berichtet Balmes von eigenen Ausflügen an das Gewässer, von Begegnungen mit Menschen, die am Fluss wohnen und etwa Nistplätze für Trauerseeschwalben bauen.
»Nature Writing« heißt diese literarische Gattung, die im englischen Sprachraum sehr populär ist. Die trockene Naturwissenschaft wird durch belletristische oder poetische Erzählelemente ergänzt. Balmes beherrscht diese Technik ganz hervorragend, schon in den Namen der einzelnen Kapitel öffnet er assoziative Räume, etwa beim Niederrhein: »Der offene Horizont«, »Die fließende Landschaft«, »Trauerseeschwalben«, »Der Korridor«, »Im Schilf«. Dort strömt dann auch seine Erzählung weiter: »Der Horizont ist keine Schranke, hinter der die Welt verschwindet. Hier ist alles weit. (…) Der Himmel liegt auf dem Horizont, der Fluss wird nicht gerahmt von einem Tal, sondern bettet sich zwischen flachen Dämmen.«
Ergänzt wird das Buch durch zwei Bildteile – fossile Relikte, historische Darstellungen und architektonische Aufrisse sowie die Rheinbilder von William Turner, dem Balmes mit »Das Licht auf dem Wasser« ein ganzes Kapitel gewidmet hat; der zarte, lichtdunstige Rheinfall von Schaffhausen oder Bleistiftskizzen der Loreley. Auch der Fotograf August Sander ist vertreten und der Landschaftsmaler Carl Theodor Reiffenstein, dessen reduzierte Ansicht der Rheinebene bei Seeheim von 1872 vom Bildaufbau das berühmt gewordene, sachlich-romantische Foto von Andreas Gursky vorwegnimmt.
Ein wundervoller Wälzer, mit einer winzigen Einschränkung: Hans Jürgen Balmes‘ »Der Rhein« ist viel mehr als die titelgebende »Biographie eines Flusses«. Es ist eine Liebeserklärung.
Hans Jürgen Balmes: »Der Rhein – Biographie eines Flusses«, S. Fischer Verlag, 560 Seiten, 28 Euro