Literatur ist ein Ort für Fiktionen. In ihr können wir Zauberer, Tiere oder alle Menschen dieser und anderer Erden sein. Literatur ist ein freier Ort für Identitäten, die frei von den Zuschreibungen anderer Menschen ist. Doch Literatur ist auch ein Ort, an dem unsere Realität reflektiert, gespiegelt und die Missstände unserer Gesellschaft aufgezeigt werden. Literatur kann Identitäten im realen Leben verhandeln, beleuchten und kritisieren.
Die diesjährige Wuppertaler Literaturbiennale hat unter dem Titel »Zuschreibungen. Geschichten von Identität« Schriftsteller*innen eingeladen, die sich in ihrem literarischen Werk mit Identität und der Zuschreibung von Identitäten beschäftigen. Denn anders als in der Literatur wird die Identität in der Realität leider viel zu viel von anderen bestimmt. Sei es durch die sexuelle Orientierung, die Herkunft oder den sozialen Status: Wir alle werden nicht nur durch uns selbst, sondern auch durch unsere Umwelt, unsere Geschichte und die Welt, in der wir leben, geformt. Gemeinsam haben alle Schriftsteller*innen des Festivals also eines: Sie alle, egal, ob Sharon Dodua Otoo, Dinçer Güçyeter, Avan Weiss oder Jayrôme C. Robinet, eint der Mut, ihre eigene Geschichte zu schreiben.
Auch wenn Identität in der Sozialpsychologie ein relativ neues Phänomen ist, das erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts existiert, gab es auch schon vorher Biografien, die nicht in eine Schublade passten. Ein Beispiel dafür schildert die renommierte Schriftstellerin Irene Dische in ihrem Roman »Die militante Madonna«, der sich mit Chevalier d’Éon de Baeaumont beschäftigt: Geboren 1728 im französischen Tonnerre, hatte er im Laufe seines Lebens nicht nur als Botschafter von König Ludwig XV. gearbeitet, sondern auch als Spion in London. Doch seine Strahlkraft bis heute liegt auch darin, dass er mindestens die Hälfte seines Lebens als Frau gelebt hat und eine Leichenschau erst das biologische Geschlecht offenbarte. Dische zeigt in ihrem Roman, dass Diskurse wie Identitätspolitik, Genderfluidität und Intergeschlechtlichkeit keinesfalls neue Phänomene unserer modernen Gesellschaft sind.
Yannic Han Biao Federer geht in seinem Roman »Tao« auf eine autofiktionale Suche nach seiner Familiengeschichte und seinen Großvater, der als Kind von Indonesien nach Hongkong verschleppt wurde. Der Erzähler Tao wird von allen nur Tobi genannt und trotzdem begegnen ihm im Alltag immer wieder Rassismen, die ihm deutlich machen: Du bist anders. In klaren, kurzen Bildern und mehreren fiktionalen Ebenen zeigt Federer den Spagat zwischen Herkunft, Identität und Zuschreibung von außen.
Eingeladen werden nicht nur arrivierte Schriftsteller*innen, sondern auch der Nachwuchs: In diesem Jahr geht der Preis der Literaturbiennale an Annika Domainko für ihre Erzählung »Teilchenschauer«. Emily Jeuckens und Katrin Krause erhalten jeweils einen Förderpreis. Zuschreibungen von außen können auch Kreatives bewirken, so wie bei dem israelischen Schriftsteller Tomer Gardi, der in diesem Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse gewann und durch Bücher wie »Broken German« bekannt geworden ist. Er hatte seinen letzten Roman »Eine runde Sache« halb in seiner eigenen Verwendung des Deutschen, halb in seiner Muttersprache Hebräisch geschrieben.
3. bis 10. September, Karten gibt es unter wuppertal-live.de