Er
kommt mit offenem Verdeck. Lucas Vogelsang rollt mit seinem
metallicblauen Saab Cabriolet vor den Hintereingang des Mülheimer
Hauptbahnhofs. Soviel Style ist selten an diesem Nicht-Ort. Nichts
wie weg also, an diesem überwarmen Novembertag mit dem
flammendgelben Herbstlaub. Es geht über die Ruhrbrücke Richtung
Saarn. Vogelsang fährt einen flotten Reifen, weist in die Ferne –
»Da hinten wohnt Helge Schneider!« –
und findet mit Mühe einen Parkplatz in der Nähe des Cafés
»pottschwarz«.
Der Laden ist voll, die Heißgetränke dampfen, Lucas Vogelsang entdeckt ein Plakat mit seinem Gesicht und den Hinweis auf seine Lesung und freut sich. Nach Gila Lustiger ist Vogelsang der zweite Stadtschreiber, den die Essener Brost-Stiftung ins Ruhrgebiet holt. Der Berliner schrieb u.a. für die Welt am Sonntag und residiert jetzt für ein Jahr in Mülheim. Für sein neues Buch, an dem er gerade gemeinsam mit Joachim Król arbeitet, ist er zum Rowohlt-Verlag gewechselt.
»Reportagen sind wie schöne Affären.«
Man
merkt Lucas Vogelsang im Gespräch an, wie gern er Reporter ist. Das
Unterwegssein, fremde Orte, interessante Menschen. Geschichten, die
aufgeschrieben werden müssen. Sein Buch »Heimaterde – Eine
Weltreise durch Deutschland« ist somit auch eine überlange
Reportage von 330 Seiten, und war so erstmal nicht geplant. Nach der
Mitarbeit an der BVB-Anthologie »Man muss ein Spiel auch lesen
können« schlug man ihm ein eigenes Buch vor. Aber: »Ich wollte nie
eins schreiben. Ein Buch ist wie eine lange Beziehung und Reportagen
sind wie schöne Affären. Ich dachte immer, ich wäre noch nicht
reif für so eine lange Geschichte.« Er zog in den Wedding und
schrieb die Zeitungs-Reportage »Ein deutsches Eck« über die
Bewohner seines Hauses, wo sich die Klingelschilder lesen wie eine
»UN-Vollversammlung«. Deren Lebensgeschichten erzählt Vogelsang
auch in »Heimaterde«: »Ich gehe in jedem Kapitel von den Bewohnern
in die Welt. Im Haus lebt eine nordvietnamesische Blumenfrau, ich
habe daraufhin Nordvietnamesen in Rostock-Lichtenhagen besucht. Bei
meiner türkischen Nachbarin stirbt die Mutter – ich habe
nachgeschaut, wo es Deutschlands jüngsten muslimischen Bestatter
gibt. In Essen, am Friedhof am Hallo.«
Hinfahren,
zuhören, mitschreiben. Er macht das sehr lässig, mit großer Nähe
zu den Menschen, ist dabei aber nie gefühlsduselig und verzichtet
auf gehobene Zeigefinger. »Ich habe keine Lust, moralinsaure Text zu
schreiben und den Lesern alles vorzukauen. Fikret aus dem Wedding
kann man blöd oder gut finden. Man soll sich ein eigenes Bild
machen. Wie soll ich mit 33 Jahren als moralische Instanz einem
60-jährigen erklären, wie er sein Leben hätte leben müssen?« Der
Buchtitel bezieht sich nicht nur auf den Mülheimer Stadtteil. Auf
einer Reportagereise entdeckte er mitten in Namibia nach 300
Kilometern Wüstenpiste auch ein Schild mit der Aufschrift
»Heimaterde«. Ein Begriff, der nun auf zwei Kontinenten existiert,
und bestens zum Buch passt, zumal es in einem Kapitel um muslimische
Beerdigungen geht. Menschen, die vom Titel Blut und Boden erwarten,
enttäuscht er bewusst: »Ich schreibe über migrantische
Identitäten, die aber dennoch sehr deutsch sind. Der junge
marokkanische Bestatter aus Essen hat zwei Großväter. Der eine hat
40 Jahre unter Tage gearbeitet, der andere war bei ThyssenKrupp. Das
ist doch die ideale Ruhrpottbiografie und entzieht sich jeglicher
Zuschreibung!«
»Heimat ist, wo du das W-Lan-Passwort kennst.«
Das
Revier ist für Vogelsang längst auch ein bisschen Heimat geworden.
29 Mal hat er bereits in einem Hotel am Essener Kennedyplatz
übernachtet. »Heimat ist, wo es ein bekanntes Gesicht gibt. Ich
kenne hier schon sehr viele Menschen, die ich anrufen kann« sagt er.
Oder anders: »Heimat ist, wo du das W-Lan-Passwort kennst. Wenn ich
hier ins Café komme, verbindet sich direkt mein Handy. Ich war also
schon mal da. Und wenn ich mal nicht da bin, fragen die Leute, wo ich
denn bleibe. Dann bist du zu Hause. Wenn die Leute merken, dass du
fehlst.«
Das Ruhrgebiet will Vogelsang vom Menschen her erzählen, sagt er. Für die wichtigsten Städte hat er Paten ausgesucht, mit denen er dort Zeit verbringen will. Die dort leben oder aufgewachsen sind. Die sich auskennen. Aus den Biografien, Anekdoten und Begegnungen entstehen dann die Texte. Angefragt ist Peter Thorwarth, der in Unna aufgewachsene Regisseur von »Bang Boom Bang«. Mit Joachim Król will er ins Stadion zu Westfalia Herne und mit seinem Kumpel Micky Beisenherz hat er vor, nachts im Burger King von Castrop-Rauxel abzuhängen. Mal gucken, was passiert.
Und
was ist mit den großen Themen Steinkohle und Marxloh, die angeblich
für das Ruhrgebiet stehen? »Wenn alle schon in Marxloh waren, muss
ich da nicht mehr hin. Wenn schon Duisburg, dann würde ich lieber
bei Adolf Sauerland im Reisebüro vorbeischauen und fragen, wie es
ihm jetzt so geht. Auch das ist Teil des Ruhrgebiets, fast zehn Jahre
nach der Love-Parade.« Er erwähnt das riesige Special in der WAZ
über das Ende der Steinkohle, das kürzlich erschien.
Für ihn ist das Thema durch: »Da war alles drin, was man hätte
machen können. Mein Ansatz ist und bleibt, mit Leuten zu sprechen,
dir mir etwas sagen und die aus ihren Geschichten und Anekdoten
heraus ihre Biografie erzählen. Jenseits von Kohle und Marxloh.«
Lucas Vogelsang
»Heimaterde – Eine Weltreise durch Deutschland«
Aufbau Verlag, 330 Seiten, 20.- Euro